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Es gibt keine Wehrgerechtigkeit mehr

Presseerklärung vom 17.11.2000
Der Vorsitzende der Zentralstelle KDV, Ulrich Finckh, erklärt:

Scharpings Hokus Pokus
oder
Wie der Verteidigungsminister 75.000 Wehrpflichtige verschwinden läßt.

Inhalt

1. Zusammenfassung
2. Das irreführende Schaubild aus dem Hintergrundpapier
3. Kritik 1: „Nichtgemusterte" werden doppelt gezählt
4. Kritik 2: Tauglichkeitsquote ist falsch festgelegt
5. Kritik 3: Will Scharping für Kriegsdienstverweigerung Propaganda machen?
6. Kritik 4: Zu viele freiwillige Soldaten werden abgerechnet und die Frauen völlig vergessen
7. So verschwinden 75.000 Wehrpflichtige aus der Statistik
8. Die Angaben widersprechen der bisherigen Praxis des Verteidigungsministeriums

1. Zusammenfassung

Gegen die Kritik an der fehlenden Wehrgerechtigkeit hat der Bundesminister der Verteidigung am 15.11.2000 ein „Hintergrundpapier zur Wehrgerechtigkeit" veröffentlicht (www.bundeswehr.de), das offensichtlich irreführend ist und widersprüchlich argumentiert. Wenn heute aus schwächeren Geburtsjahrgängen 143.000 Wehrpflichtige pro Jahr einberufen werden können, dürften die kommenden stärkeren Geburtsjahrgänge kaum nur 100.000 verfügbare Wehrpflichtige hervorbringen, es sei denn, zwei Jahre rot-grüne Politik haben die halbe Jugend krankgemacht. Wenn im Mai 2000 noch damit geplant wurde, dass in den nächsten zehn Jahren mindestens 150.000 Wehrpflichtige pro Jahr verfügbar sind, kann diese Zahl im November kaum auf 100.000 gesunken sein, es sei denn, der Verteidigungsminister hat im Frühjahr die Weizsäcker-Kommission in die Irre geführt.

Man kann rechnen, wie man will: Nicht 100.000, sondern mehr als 180.000 Wehrpflichtige stehen jedes Jahr für den Grundwehrdienst zur Verfügung. Das zeigen die bisherigen Erfahrungen.

2. Das irreführende Schaubild aus dem Hintergrundpapier

Der Bundesminister der Verteidigung versucht, die Jahrgänge, die zur Einberufung anstehen, mit unrichtigen Angaben klein zu rechnen und den Bedarf der Bundeswehr möglichst groß.

Die Hauptargumentation ist eine Tabelle, die die künftigen Ausschöpfungsquoten der Geburtsjahrgänge zeigen soll. Sie behauptet, auf Erfahrungen zurückzugreifen, überrascht aber mit völlig neuen Zahlen und irreführenden Doppelzählungen. Das ist leicht aufzuzeigen an der ersten Spalte mit den Jahrgängen 1983 bis 1986. Doch zunächst noch einmal die Tabelle aus dem „Hintergrundpapier zur Wehrgerechtigkeit":

„12. Daraus ergeben sich die zu erwartenden Ausschöpfungsquoten:

Planungsjahr

2005

2008

2010

2012

Betrachtete Geburtsjahrgänge

1983-86

1986-89

1988-91

1990-93

Aufkommen (100%) 1)

423.400

442.800

436.400

405.600

Nicht Gemusterte (4%) 2)

16.900

17.700

17.400

16.200

Nicht Nichtdienstfähige (22%) 3)

93.100

97.400

96.000

89.200

Wehrdienstausnahmen (3%) 4)

12.700

13.200

13.000

12.100

Externer Bedarf 5)

14.000

14.000

14.000

14.000

Anerkannte Kriegsdienstverweigerer (38%)6)

160.800

168.200

165.800

154.100

Ergänzungsbedarf BS/SaZ

25.000

25.000

25.000

25.000

Für die Einberufung verfügbare Männer

100.900

107.300

105.200

95.000

Mögliche Einberufungen gesamt

96.000

91.600

88.600

88.600

Ausschöpfungsrest (absolut)

4.900

15.700

16.600

6.400

Ausschöpfungsrest (%)

1,1

3,5

3,8

1,5

Ausschöpfungsquote

98,9

96,5

96,2

98,5

1) Ca. 80% aller Wehrpflichtigen werden zwischen dem 19. und 22. Lebensjahr eingezogen. Der dargestellte Wert errechnet sich als Durchschnittswert derjenigen vier Geburtsjahrgänge, die im Planungsjahr dieses Alter erreichen. Alle weiteren Prozentangaben beziehen sich auf den Wert „Aufkommen".

2) Personen, die im Ausland leben oder auf Grund offensichtlicher Hinderungsgründe wie z.B. anerkannter Behinderungen nicht gemustert werden

3) erwartete Zahl nicht Tauglicher, einschl. bisheriger T-7

4) z.B. dritte Söhne, Väter, Theologen, unzumutbare Härtefälle

5) gemittelter Bedarf in den Geburtsjahrgängen 1970-74 für Polizei, BGS, Zivil-und Katastrofenschutz, Entwicklungshilfe

6) Prognose auf Grund gegenwärtiger Erfahrungen

Dazu ist festzuhalten, dass die Zahlen (s. Anmerkungen 2 bis 6) auf den Erfahrungen der letzten Jahre beruhen." Soweit das Zitat aus dem Hintergrundpapier.

3. Kritik 1: „Nichtgemusterte" werden doppelt gezählt

Bisher wurden die „Nichtgemusterten" mit unter 1 % angegeben, jetzt sollen es 4 % sein. Die Erläuterung spricht von „Personen, die im Ausland leben oder auf Grund offensichtlicher Hinderungsgründe wie z.B. anerkannter Behinderungen nicht gemustert werden". Natürlich muss ein Rollstuhlfahrer nicht zur Musterung erscheinen - er wird auch ohne Untersuchung auf Grund seines Schwerbehindertenausweises als „nicht wehrdienstfähig" eingestuft. Schließlich sieht die vom Verteidigungsminister erlassene Musterungsverordnung das so vor.

Wer wissen will, wer zu den „Nichtgemusterten" gehört, muss nur in die Musterungsverordnung sehen und wird sofort feststellen, dass diese Gruppe an anderen Stellen in der Auflistung des Verteidigungsministers noch einmal gezählt wird:

Nicht gemustert werden nach der Verordnung (§ 3 Abs. 1 Ziffer 8 MustV) diejenigen, die sich frühzeitig als Freiwillige zur Bundeswehr melden. Sie sind deshalb sowohl in den rund 17.000 „Nicht Gemusterte" wie auch in den 25.000 „Ergänzungsbedarf BS/SaZ" enthalten.

Nicht gemustert werden nach der Verordnung (§ 3 Abs. 1 Ziffern 5 bis 7 MustV) diejenigen, die zum Zeitpunkt der eigentlich vorgesehenen Musterung bereits bei der Polizei sind oder im Zivil- und Katastrophenschutz mitwirken. Sie sind deshalb sowohl in den rund 17.000 „Nicht Gemusterte" wie auch in den 14.000 „externer Bedarf" enthalten.

Nicht gemustert werden nach der Verordnung (§ 3 Abs. 1 Ziffer 4 MustV) diejenigen, die auf Antrag vom Wehrdienst befreit sind, also z.B. 3. Söhne. Sie sind deshalb sowohl in den rund 17.000 „Nicht Gemusterte" wie auch in den rund 12.700 „Wehrdienstausnahmen" enthalten.

Nicht gemustert werden nach der Verordnung (§ 3 Abs. 1 Ziffer 1 MustV) schließlich diejenigen, für die sich auf Grund einer Bescheinigung ergibt, dass „sie nicht wehrdienstfähig" sind, also insbesondere Schwerbehinderte. Sie sind deshalb sowohl in den 17.200 „Nicht Gemusterte" wie auch in den rund 93.000 „Nicht Wehrdienstfähige" enthalten.

Nicht gemustert werden Männer, „die im Ausland leben", weil deren Wehrpflicht ruht (§ 1 Absatz 2 Wehrpflichtgesetz). Sie werden aber auch nicht erfaßt, weil sie bei den deutschen Einwohnermeldeämtern nicht registriert sind. Deshalb fehlen diese schon in der Rubrik „Aufkommen" und dürfen nicht davon nochmals abgezogen werden.

Tatsächlich dürfen höchstens 1 % als nicht gemustert gezählt werden.

4. Kritik 2: Tauglichkeitsquote ist falsch festgelegt

Die Angabe „Nicht Wehrdienstfähige (22 %)" ist nicht „Erfahrung der letzten Jahre", wie es der Verteidigungsminister glauben machen will, sondern eine Phantasiezahl. Die Erfahrungen der letzten sechs Musterungsjahre ergeben sich aus der nachfolgenden Tabelle:

Musterungsjahr 1994 1995 * 1996 1997 1998 1999
Anzahl der Musterungen

318.797

395.514

418.181

427.521

417.805

395.646

wehrdienstfähig

246.724

329.866

370.118

370.397

362.639

342.089

vorüberg. nicht wehrdienstfähig

12.294

27.160

8.121

19.288

14.941

13.028

nicht wehrdienstfähig

59.779

38.488

39.942

37.836

40.225

40.529

wehrdienstfähig 77,39 83,40 88,51 86,64 86,80 86,46
vorüberg. nicht wehrdienstfähig 3,86 6,87 1,94 4,51 3,58 3,29
nicht wehrdienstfähig 18,75 9,73 9,55 8,85 9,63 10,24

Alle Angaben vom Presse- und Informationsstab des Bundesministeriums der Verteidigung. Die prozentuale Verteilung wurde von uns errechnet.

* In diesem Jahr wurde - nach großer öffentlicher Diskussion über Wehrungerechtigkeit wegen der vielen Untauglichen - durch eine Gesetzesänderung, die gegen den Widerstand des Verteidigungsministeriums vom Deutschen Bundestag durchgesetzt wurde, die Tauglichkeitsgruppe T 7 eingeführt. Von dieser Gruppe haben in der Vergangenheit pro Jahr ca. 15.000 Wehrpflichtige tatsächlich Wehr- bzw. Zivildienst geleistet, waren also „wehrdienstfähig"..

Von den „vorübergehend nicht Wehrdienstfähigen" wird erfahrungsgemäß die Hälfte bei der zweiten Untersuchung wehrdienstfähig, die andere Hälfte auf Dauer nicht wehrdienstfähig. Von den tatsächlich Gemusterten sind also - zumindest in den letzten vier Jahren - im Durchschnitt 88 % für „wehrdienstfähig" befunden worden.

Tatsächlich sind also nicht mehr als 12 % der tatsächlich Gemusterten „nicht wehrdienstfähig". Verteidigungsminister Scharping rechnet 4 % nicht Gemusterte und 22 % nicht Wehrdienstfähige, also insgesamt 26 % Ausfall, während es in der Realität nur 1 % nicht Gemusterte und 12 % nicht Wehrdienstfähige sind. Selbst wenn die Bundestagsabgeordneten durch eine Änderung von § 8a Wehrpflichtgesetz bisher taugliche Wehrpflichtige T 7 zu Untauglichen erklären, sind es zukünftig 16 % nicht wehrdienstfähig Gemusterte, also insgesamt 17 % Ausfall, also 9 % weniger als der Verteidigungsminister angibt.

9 % von 423.000 sind über 38.000 Wehrpflichtige, die - Hokus Pokus - verschwinden. (Wenn die T 7 Gemusterten tauglich bleiben, wären es nach heute geltenden Maßstäben sogar 13 %, also über 55.000 Wehrpflichtige, die der Bundesminister der Verteidigung wegläßt).

5. Kritik 3: Will Scharping für Kriegsdienstverweigerung Propaganda machen?

Irreführend ist die Angabe der anerkannten Kriegsdienstverweigerer. Es sollen 38 % vom Geburtsjahrgang sein. Die höchste bisher tatsächlich erreichte Zahl sind 30,53 % vom Geburtsjahrgang 1976 (Quelle: Daten und Fakten zur Entwicklung von Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst, hrsg. Vom Bundesamt für den Zivildienst, September 2000, Seite 9) oder 30,43 % für den Geburtsjahrgang 1976, wie es sich aus den Zahlen des Presse- und Informationsstabes des Bundesministeriums der Verteidigung mit Stand vom 31.12.1999 ergibt (die Zahlen sind ausführlich im Internet erläutert unter www.dfg-vk.de/zentralstelle-kdv/zahl01.htm):

Geburtsjahrgang

1970

1971

1972

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981 1982
Erfaßte

508.889

490.642

432.394

389.855

381.354

375.552

388.343

404.627

403.732

407.679

428.985

426.770

329.492

als KDV anerkannt

100.653

108.131

109.817

97.851

104.559

108.665

118.182

117.704

111.282

97.520

55.251

10.746

297

KDV am Jahrgang

19,78%

22,04%

25,40%

25,10%

27,42%

28,93%

30,43%

29,09%

27,56%

23,92%

12,88%

2,52%

0,09%

Nach bisherigen Erfahrungen muss man bei den über 23-jährigen höchstens noch mit 1 % zusätzlich rechnen, die erst so spät verweigern. Von denen verweigern außerdem manche nach abgeleistetem Grundwehrdienst. Diese dürfen nicht als „Ausfälle" für den Grundwehrdienst abgezogen werden, sondern standen der Bundeswehr zur Verfügung und haben sogar gedient. Geht man also von dem Erfahrungswert maximal 32 % anerkannte Kriegsdienstverweigerer aus, hat der Bundesminister der Verteidigung auch hier 6 % zuviel abgezogen. (Oder hat er etwa vor, in den nächsten Jahren einen Werbefeldzug für Kriegsdienstverweigerung zu machen?)

Es sind jedenfalls wieder - Hokus Pokus - über 25.000 Wehrpflichtige verschwunden.

6. Kritik 4: Zu viele freiwillige Soldaten werden abgerechnet und die Frauen völlig vergessen

Schließlich bleibt der Ergänzungsbedarf an Zeit- und Berufssoldaten. Angeblich sind das jedes Jahr 25.000. Gleichzeitig wird aber die Wehrpflicht damit begründet, dass Grundwehrdienstleistende sich nach den Bundeswehrerfahrungen weiterverpflichten und dadurch erst die ausreichende Zahl an neuen Zeitsoldaten gewonnen wird. Bisher hat der Bundesminister der Verteidigung angegeben, etwa 40 % der benötigten Zeitsoldaten würden aus den Reihen der Grundwehrdienstleistenden gewonnen, etwa 10.000 pro Jahr. Es sind also nur 15.000, die - ohne vorher Grundwehrdienst zu leisten - sofort Zeitsoldaten werden. Außerdem werden - so sagte es jedenfalls der Generalinspekteur auf der Kommandeurstagung - 7 % bis 8 % dieser neuen Zeitsoldaten Frauen sein, also knapp 2000. Insgesamt werden also nur 13.000 Männer direkt als Zeitsoldaten angeworden.

Damit läßt der Verteidigungsminister in seiner Rechnung - Hokus Pokus - wieder 12.000 Wehrpflichtige verschwinden.

7. So verschwinden 75.000 Wehrpflichtige aus der Statistik

Zählt man zusammen, sieht man die fehlende Wehrgerechtigkeit auf den ersten Blick. In der Statistik des Bundesministers der Verteidigung sind unterschlagen:

38.000 angeblich „Nicht Wehrdienstfähige" oder nicht Gemusterte

25.000 Kriegsdienstverweigerer, die es nicht gibt,

12.000 Zeitsoldaten, um derentwillen es angeblich bei der Wehrpflicht bleiben muss.

Insgesamt 75.000 taugliche und verfügbare Wehrpflichtige werden nicht einberufen, weil der Bundesminister der Verteidigung sie einfach - Hokus Pokus - unter den Tisch fallen läßt. (Nach bisherigen Kriterien sind es sogar 92.000!)

8. Die Angaben widersprechen der bisherigen Praxis des
Verteidigungsministeriums

Wem die Rechnerei zu kompliziert ist, der kann es auch einfacher haben. Bei kleineren Jahrgängen wurden 1997 und 1998 jeweils 126.000 Wehrpflichtige als Grundwehrdienstleistende für 10 Monate und 17.000 Wehrpflichtige als freiwillig länger dienende Grundwehrdienstleistende für 12 bis 23 Monate einberufen. Zusammen sind das 143.000. Wie war das möglich, wenn selbst von den nun zur Einberufung anstehenden größeren Geburtsjahrgängen nur gut 100.000 verfügbar sein sollen? Meint der Bundesminister der Verteidigung, die militärische Taktik „Tarnen und Täuschen" auch gegenüber Öffentlichkeit und Parlament anwenden zu müssen? So einfach geht das nicht.

Die Weizsäcker-Kommission hat noch Ende Mai 2000 mitgeteilt - unter Berufung auf Zahlen, die der Kommission vom Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellt wurden -, dass in den nächsten 10 Jahren (vgl. die „aufkommensbezogenen" Wehrpflichtmodelle in dem Bericht) mit mindestens 150.000 Einberufungen pro Jahr gerechnet werden müsste. Das kann man in dem Bericht der Kommission unter den Ziffern 86/87 nachlesen (Bericht der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" an die Bundesregierung vom 23. Mai 2000, Seite 60/61, zu finden im Internet unter www.bundeswehr.de).

Wir haben nachgelesen. Und das hat uns mißtrauisch gemacht gegenüber den neuen Angaben. Diese neuen Angaben sind eben schlicht falsch. Das ist wohl auch der Grund, dass sicherheitshalber die Wehrgerechtigkeit allgemein angezweifelt wird. Verräterisch ist die Argumentation, die Einberufungsquote sei auch schon früher zeitweilig unter 84 % abgesunken. Ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit wird also vorsorglich zugegeben, soll aber die Wehrpflicht angeblich nicht gefährden.

Ergebnis:
Der Bundesminister der Verteidigung versucht zu vertuschen, dass es nur noch eine Auswahlwehrpflicht geben soll. Die aber ist mit dem Gleichheitsgebot des Artikels 3 Grundgesetz unvereinbar.

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