Wir waren sieben Monate auf der Flucht
Rainer Hunoldaufgeschrieben von zwei serbischen Kriegsdienstverweigerern,
beim Empfang des Präsidenten der Deutschen Bundestages aus Anlaß des Internationalen Tags der Kriegsdienstverweigerung am 16.5.2000 im Reichstag in Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Bischof, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin gebeten worden, Ihnen das vorzutragen, was zwei Kriegsdienstverweigerer aus der Bundesrepublik Jugoslawien für Sie aufgeschrieben haben. Beide möchten nicht mit ihrem Gesicht in die Öffentlichkeit. Aber sie möchten davon erzählen, wie sie sich dem mörderischen Krieg des Slobodan Milosevic gegen den Kosovo verweigert haben. Und zu Anfang ihrer Ausführungen verweisen sie darauf, dass nicht nur sie, sondern auch viele andere so gehandelt haben. Hier nun das, was die Beiden mir aufgeschrieben haben:
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir möchten uns dafür entschuldigen, dass wir nicht selber teilnehmen können.
Wir kommen beide aus der Bundesrepublik Jugoslawien. Wir sind zwei von vielen Militärdienstentziehern, die vor oder während des Krieges Serbien verlassen haben und nicht bereit waren, den militärischen Befehlen nachzukommen. Die genaue Zahl derer, die sich dem Krieg verweigert haben, ist nicht bekannt. Es gibt aber schon 20.000 Strafverfahren, die gerade anhängig oder bereits abgeschlossen sind. Wir Kriegsdienstverweigerer werden verfolgt. Wir werden nach dem Strafgesetzbuch bestraft wegen der Entziehung vom Militärdienst oder von Militärübungen, wegen des Versteckens, um dem Militärdienst zu entgehen oder wegen des Verbleibens im Ausland während des erklärten Kriegszustandes. Eine Verjährung der - in Anführungszeichen - Straftat Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht. Jeder hat, unabhängig davon, wann der Prozess stattfindet, eine Strafe von 5 bis zu 20 Jahren Gefängnis zu erwarten.
Zu unserem großen Bedauern fehlt in der Resolution 1244 der Vereinten Nationen, die sich an die Bundesrepublik Jugoslawien wendet, die Forderung nach einer Amnestie für diejenigen, die sich nicht an der Vertreibung und Ermordung der Kosovaren beteiligen wollten. Die politischen Parteien in Serbien, selbst die oppositionellen, ziehen ein Amnestiegesetz nicht in Betracht. Sie erkennen nicht, was für ein wichtiges Problem das im Moment ist. Auch in den Medien gibt es keine Diskussion über eine Amnestie. Sollen wirklich einige 10.000 Menschen eingesperrt werden, weil sie sich völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Militäraktionen entzogen haben?
Doch nun zu unserer ganz persönlichen Geschichte. Während der Bombardierungen im April letzten Jahres waren wir in unserem Heimatort im Norden von Jugoslawien. Mein Freund versteckte sich in der Wohnung seiner Eltern, weil er gegen das Militärgesetz verstoßen hatte. Bomben fielen vom Himmel, auf der Erde herrschte das Regime von Milosevic. Überall gab es Polizisten und Soldaten. Jeden Tag hörte ich Geschichten über eine baldige allgemeine Mobilisierung. Es war klar, dass sie uns bald finden würden. Wir entschieden uns, das Land zu verlassen. Das ging natürlich nur auf illegalen Wegen. Der sicherste Weg schien der über den Fluss Drina - dem Grenzfluss zu Bosnien. Verwandte meines Freundes halfen uns, Menschen zu finden, die Waren über den Fluß schmuggelten. Wenige Tage später, am 4. Mai, war es uns mit ihrer Hilfe möglich, die Grenze zu überqueren.
Am 5. Mai erreichten wir Sarajevo. Dort wollten wir Freunde aus Belgrad treffen, die sich aber weigerten, uns zu helfen. So klopften wir bei der Nichtregierungs-Organisation „Frauen für Frauen" an die Tür und beschrieben unsere Situation. Die Frau, die uns dort die Tür geöffnete, war in der folgenden Woche unsere Gastgeberin. Wir planten, nach Israel zu gehen, da ein dort lebender Freund uns nach Tel Aviv eingeladen hatte. Die nächste Israelische Botschaft war aber in Budapest und Budapest für uns nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Für die Durchreise durch Kroatien hätten wir ein Visum benötigt, dessen Ausstellung über einen Monat dauern sollte.
Mitte Mai erreichten wir also Budapest mit dem Flugzeug. Die Grenzpolizei behandelte uns wie Verbrecher, ließ uns aber nach dreistündiger Befragung doch ins Land. Wir beantragten in der israelischen Botschaft Touristenvisa und erfuhren, dass die Ausstellung mindestens einen Monat dauern würde. Zunächst schliefen wir in Budapest fast jede Nacht in einer anderen Wohnung. Nur durch die Hilfe vieler einzelner Menschen haben wir es geschafft, in Budapest zu überleben.
Ende Juni erhielten wir endlich unsere Visa für Israel - gültig für einen Monat. Da unsere Visa für Ungarn gleichzeitig ausliefen und wir keine Chance auf eine Verlängerung hatten, beschlossen wir, es mit dem einen Monat in Israel zu versuchen. Am 4. Juli kamen wir nach Tel Aviv. Obwohl interessant und voller Möglichkeiten, war Tel Aviv keine Stadt für ein leichtes Leben. Wir mussten arbeiten, obwohl wir wussten, dass wir ohne die dafür nötige Arbeitserlaubnis sofort des Landes verwiesen werden konnten. Ein Journalist, der uns unterstützte, schaffte es, die Behörden zu überreden, unsere Aufenthaltserlaubnis um zwei Monate zu verlängern. Aber ohne Arbeitserlaubnis und langfristige Sicherheit war es uns unmöglich, in Israel zu bleiben.
Wir kehrten Mitte August nach Budapest zurück. Dort engagierten wir uns wieder in dem „Safe House"-Projekt, in dem wir schon bei unserem ersten Aufenthalt in Budapest mitgearbeitet hatten. In diesem Projekt werden Menschen wie wir - Kriegsdienstverweigerer und Deserteure - unterstützt. Schon bei unserem ersten Aufenthalt hatten wir einen schriftlichen Kontakt nach Münster in Deutschland. Ende August erreichte uns eine Nachricht aus Münster, dass wir dort vielleicht aufgenommen werden könnten. Mitte September bekamen wir die Bestätigung. Mit der Einladung der Stadt Münster beantragten wir die Visa für Deutschland. Das war trotz der offiziellen Einladung nicht so einfach. Schon für den Antrag mussten wir tagelang anstehen. Nichtsdestotrotz, einen guten Monat später bekamen wir die deutschen Visa und begaben uns wieder auf die Reise.
Am 14. November 1999 kamen wir nach Münster. Wir waren völlig ausgepumpt, denn wir waren fast sieben Monate - von Mitte April bis Mitte November - auf der Flucht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir großes Glück hatten. Wir wissen jetzt ein bißchen, in welch verzweifelter Lage sich Millionen von Flüchtlingen, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern auf der ganzen Welt befinden. Und seit wir in Münster leben, ahnen wir, wie schwer es für Menschen in der westlichen Welt ist, diese verzweifelten Situationen der Flüchtlinge nachzuvollziehen. Das, was die Stadt Münster leistet, ist ein großer humanitärer Schritt und sollte Vorbild für lokale, regionale und staatliche Institutionen sein. Alle sollten es Münster gleich tun. Wir freuen uns deshalb sehr, dass die deutsche Regierung vor wenigen Tagen einen solchen Schritt gegangen ist.
Wir grüssen Sie zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung
Ihre zwei Kriegsdienstverweigerer aus Serbien,
zur Zeit in Münster.
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