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Konversion des Zivildienstes - eine sozialpolitische Betrachtung

Beate Finis Siegler

Dr. Beate Finis-Siegler ist Professorin für Ökonomie und Sozialpolitik an der Fachhochschule für Sozialpädagogik Frankfurt/Main. Vortrag auf der Fachtagung "Auslaufmodell Wehrpflichtarmee", die die Zentralstelle KDV und die Evangelische Akademie Thüringen am 1./2. November 1996 in Eisenach durchführte. Die Dokumentation der Tagung kann als Broschüre bestellt werden. Vorbemerkungen

Was bedeutet Konversion im Kontext einer sozialpolitischen Betrachtung des Zivildienstes? "Konversion" meint zunächst "Umwandlung, Umstellung". Bei der Konversion in der Wirtschaft geht es laut Brockhaus um die Umstellung des Produktionsprogramms eines Unternehmens auf andere Güter, vor allem von militärischen auf zivile Güter. Für militärische Zwecke gebundene Ressourcen werden frei, über ihren zivilen Einsatz wird debattiert, wie z.B. über die Umwidmung von Kasernen in privaten Wohnraum.

Zivildienst findet aber nicht im militärischen Bereich statt, sondern überwiegend in Alters- und Kinderheimen, Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen, in der ambulanten Hilfe für behinderte Kinder, Erwachsene und alte Menschen, im Rettungs- und Fahrdienst etc. - kurz, im sozialen Sektor. Zivildienstleistende erbringen soziale Dienstleistungen im Rahmen staatlicher Sozialpolitik. Sie sind beteiligt an der Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen, die nicht über Märkte gehandelt, sondern von Nonprofit-Organisationen angeboten und im wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.

Wenn die für die Durchführung des Zivildienstes eingesetzten Mittel bereits im nicht-militärischen Bereich verbraucht werden, was heißt dann Konversion des Zivildienstes? Der Konversionsbegriff verweist zurück auf die eigentliche Funktion des Zivildienstes, ziviler Ersatzdienst, d.h. Erfüllung der Wehrpflicht mit anderen Mitteln zu sein.

Die Einführung des Zivildienstes ist Ausdruck der formalen Gleichbehandlung aller Wehrpflichtigen. Anerkannte Kriegsdienstverweigerer müssen deshalb einen Ersatzdienst leisten, solange die Wehrpflicht besteht. Der Wehrgerechtigkeit wegen waren Einsatzstellen zu suchen, in denen die Verpflichteten ihren Dienst leisten konnten. Es sollten Einsatzstellen sein, die ebenso dem Allgemeinwohl dienen wie die Bundeswehr.

Entfällt die Wehrpflicht, entfällt auch die Pflicht zum zivilen Ersatzdienst. Paradoxerweise wird aber in der Debatte um die Wehrpflicht als Auslaufmodell der Zivildienst zu einem Argument für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Die Begründungskette lautet:

Die Beibehaltung der Wehrpflicht ist eine notwendige und hinreichende Bedingung für den Zivildienst.

Die Aufrechterhaltung des Zivildienstes ist zu einer notwendigen Bedingung für die Funktionsfähigkeit des sozialen Sektors geworden.

Ergo muß die Wehrpflicht erhalten bleiben, um die Funktionsfähigkeit des sozialen Sektors nicht zu gefährden.

Für den Fortbestand der Wehrpflicht spricht die sozialpolitische Funktion des Zivildienstes. Nicht die Ausnahme begründet die Regel, sondern die Regel die Ausnahme. Die Zusammenhänge werden umgekehrt, Grund und Folge vertauscht. Der Zivildienst ist die Folge der Einführung der Wehrpflicht und die Wehrpflicht der Grund für die Einführung des Zivildienstes und nicht umgekehrt, die Wehrpflicht Folge des Zivildienstes und der Zivildienst der Grund für die Wehrpflicht.

Die "ökonomisierte Steuerung von Verpflichteten in den Sozialen Sektor" (Jetter1995, S. 133) ungeachtet der wachsenden Gerechtigkeitslücke zwischen den zum Wehrdienst nur nach Streitkräftebedarf Einberufenen und der Einberufung aller zum Zivildienst Verpflichteten erweist sich als eigenständige Funktion des Zivildienstes und legt die sozialpolitisch motivierte Verkehrung von Grund und Folge offen.

Bei der Konversion des Zivildienstes geht es im Kern um die Frage der Erfüllung sozialer Aufgaben mit anderen Mitteln. Thema ist nicht, wie im militärischen Bereich vorhandene Ressourcen im zivilen Sektor genutzt werden können, sondern wie auf den Ausfall von im zivilen Sektor eingesetzten militärisch begründeten Ressourcen reagiert werden soll. Konversion heißt entgegen der landläufigen Auffassung in diesem Kontext nicht die Umstellung des Produktionsprogramms auf andere Güter und Dienstleistungen, sondern Produktion derselben Güter und Dienstleistungen mit einem alternativen Produktionsprogramm.


Daten zum Zivildienst

Entwicklung und Organisation

Im Grundgesetz von 1949 ist im Art. 4Abs. 3 geregelt, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf. Allerdings sind Wehrpflichtige, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern, verpflichtet, einen Ersatzdienst zu leisten. Die Ersatzdienstpflicht wurde bereits1956 geschaffen. Das entsprechende Gesetz trat aber erst 1960 in Kraft. Die ersten Ersatzdienstleistenden wurden im April 1961 herangezogen.

1973 wird der zivile Ersatzdienst in Zivildienst umbenannt, das Bundesamt für den Zivildienst mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung als vorgesetzter Behörde eingerichtet und ein Beirat für den Zivildienst gegründet. Bereits 1969 wurde mit einem Kabinettsbeschluß ein Bundesbeauftragter für den zivilen Ersatzdienst eingesetzt.

Seit Oktober 1981 ist die Zuständigkeit für den Zivildienst vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auf das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, heute Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übergegangen.

1984 trat das Kriegsdienstverweigerungsneuordnungsgesetz (KDVNG) in Kraft, das für den überwiegenden Teil der jungen Männer die mit einer kurzen Unterbrechung gültige Praxis einer Gewissensüberprüfung vor einem besonderen Ausschuß aufhob. Es gilt nunmehr die schriftliche Glaubwürdigkeitsprüfung durch das Bundesamt für den Zivildienst, wenn der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung vor der Zustellung der Einberufung oder Vorbenachrichtigung gestellt wird. Wird der Antrag erst danach gestellt, ist nicht mehr das Bundesamt zuständig, sondern der Ausschuß für Kriegsdienstverweigerung, der in Ausnahmefällen den Verweigerer auch vorladen kann. Dieser Ausschuß ist auch für die KDV-Antragstellung von Soldaten und Reservisten zuständig.

Aus Gründen der Wehrgerechtigkeit müssen anerkannte Kriegsdienstverweigerer einen Ersatzdienst leisten. Grundlage ist Art. 12 a Abs. 2 GG: "Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht."

1990 wurde der Zivildienst von 20 auf 15 Monate verkürzt. Seit Januar 1996 beträgt er noch 13 Monate. Im Unterschied dazu wurde die Grundwehrdienstzeit von 15 auf 12 Monate und danach auf 10 Monate gesenkt. Die Zeitdifferenz wird als Ausgleich für die Mehrbelastung von Soldaten und als "Härtetest" für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung interpretiert (vgl. Kuhlmann/Lippert 1991b).

Das Zivildienstgesetz läßt verschiedene Arten des Ersatzdienstes zu: Zivildienst, Zivilschutz, Katastrophenschutz, Entwicklungsdienst, Friedensdienst im Ausland oder ein freies Arbeitsverhältnis. Mehr als 90 Prozent aller Zivildienstpflichtigen arbeiten im Zivildienst.

Die organisatorische Abwicklung erfolgt durch das bereits erwähnte Bundesamt für den Zivildienst mit Sitz in Köln. Neben der Prüfung der Kriegsdienstverweigerungsanträge spricht das Bundesamt die Anerkennung ziviler Dienststellen als geeignete Zivildienststellen und -plätze aus, sorgt für die Einberufung und Entlassung der Zivildienstleistenden und ist für die gesamte Durchführung des Dienstes zuständig. Mit Hilfe sogenannter Zivildienstgruppen und Regionalbetreuer werden die Aufgaben bundesweit praktisch umgesetzt. Die Landesverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben Verwaltungsstellen "Zivildienst" eingerichtet, die vom Bundesamt übertragene Aufgaben wahrnehmen wie die Beratung der Zivildienststellen, Einplanung der Zivildienstleistenden nach Ort, Zeit und Art des Dienstes usw.

Das Bundesamt für den Zivildienst ist außerdem für die bundeseigenen Zivildienstschulen zuständig, die neben anderem Einführungsdienste für Zivildienstleistende in Form zivildienstspezifischer und/oder fachspezifischer Einführungen durchführen (vgl. Kränke1990).

Seit 1984 fördert das Bundesamt spezielle Betreuungsmaßnahmen für Zivildienstleistende, die in besonders belastenden Diensten arbeiten.

Weitere dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnete Institutionen sind der Bundesbeauftragte für den Zivildienst und der Beirat für den Zivildienst, dem Erstgenannter vorsitzt. Der Bundesbeauftragte soll die Ministerin in Fragendes Zivildienstes beraten und sich vor Ort über die Durchführung des Zivildienstes informieren (vgl. Hintze 1984).

Zivildienstleistende, Zivildienststellen und Zivildienstplätze

Seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden mehr als 1 Million Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt.

Die Zahl der Zivildienstleistenden ist bis 1989 kontinuierlich gestiegen. Gab es 1961 im Jahresdurchschnitt 400, stieg die Zahl auf 89.188 Zivildienstleistende im Jahr 1989. 1990 waren die Zahlen erstmals rückläufig. In Folge der Verkürzung der Zivildienstzeit von 20 auf 15 Monate ab September 1990 sank die Durchschnittszahl auf 89.051. Allein von September (96.481) auf Oktober (78.960) reduzierte sich die Zahl der Dienstleistenden schlagartig um 17.521.

Schätzungen gingen davon aus, daß durch die Dienstzeitverkürzung 25 Prozent weniger Personen zur Verfügung stehen und sich die Zahl in der ersten Hälfte der 90er Jahre aufgrund der demographischen Entwicklung weiter verringern wird. Tatsächlich sind die Durchschnittszahlen aber wieder gestiegen, einerseits aufgrund der Einbeziehung der fünf neuen Bundesländer in die Berechnungsgrundlage seit 1992, andererseits infolge der durch den Golf-Krieg 1991 ausgelösten Debatte um den Einsatz von Bundeswehrtruppen in Krisengebieten außerhalb der Nato. So hatten allein im Zeitraum Januar bis April 199180.500 junge Männer einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Das waren mehr als die 1990 insgesamt eingereichten 74.569Antärge. Im Jahresdurchschnitt 1995 waren130.080 Zivildienstleistende im Einsatz. Momentan arbeiten 140.000 Zivildienstleistende an ihren Einsatzorten.

Die Regierung ist bei der Auswahl der Einsatzfelder für den Zivildienst kaum Beschränkungen unterworfen. § 1 des Zivildienstgesetzes fordert den Einsatz von Kriegsdienstverweigerern für Aufgaben, die dem Allgemeinwohl dienen, vorrangig im sozialen Bereich. Während es anfänglich nicht genügend Plätze gab, um die Kriegsdientverweigerer auch im Ersatzdienst einsetzen zu können, haben in den vergangenen Jahren die zugelassenen Zivildienststellen und -plätze erheblich zugenommen. 1995 standen fast 22 mal so viele Plätze zur Verfügung wie 1971. Augenblicklich gibt es ca. 177.000 Zivildienstplätze.

Gegen die Praxis des Bundesamtes wird kritisch eingewendet, daß Zivildienstplätze überwiegend im pflegerischen Bereich eingerichtet werden und keine Neuschaffung in Bereichen erfolgt, in denen es um friedenspolitische Aktivitäten geht (vgl. Lorenz 1989a). Tatsächlich dominieren eindeutig die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Mitgliedsorganisationen als Zivildienststellen. Sie beschäftigen etwa 75 Prozent der Zivildienstleistenden.

Die Verteilung macht deutlich, daß das Schwergewicht des Zivildienstes bei den Pflege- und Betreuungsleistungen, den mobilen sozialen Hilfsdiensten, im Rettungsdienst und bei der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung liegt.

Staatliche Aufwendungen für den Zivildienst

Zivildienst ist Ersatzdienst und damit Erfüllung der Wehrpflicht. Der Zivildienstleistende erhält deshalb die gleichen Bezüge wie ein einfacher Soldat, nach 3 Monaten wie ein Gefreiter.

Das Bundesamt für den Zivildienst benötigt einschließlich der Personalausgaben für die Zivildienstleistenden zur Zeit etwa 2,5 Mrd. Mark. 1973 lag diese Summe noch unter 100Mio. Mark, 1987 bei ca. 1,1 Mrd. Mark.

Nach Modellrechnungen (vgl. Blandow1988; Kraus 1988), die sich auf das Jahr 1987beziehen, erbringen Zivildienstleistende Arbeitsleistungen in einem Geldwert von etwa2,24 Mrd. Mark und erreichen damit das Doppelte der gesamten Bundesausgaben für den Zivildienst für diesen Zeitraum.

Die sozialpolitische Funktion des Zivildienstes

Systematik der Hilfesysteme im sozialen Sektor

Zum sozialen Sektor der Bundesrepublik Deutschland sollen hier unterschiedlich strukturierte soziale Hilfesysteme mit je spezifischer Funktionslogik und differierenden Zugangsmöglichkeiten für Hilfesuchende gezählt werden.

Neben den familialen Hilfesystemen wie Familie, Verwandtschaft, Freunde und Nachbarn rangieren nicht-familiale, die sich in erwerbsmäßig erbrachte und nicht erwerbsmäßig erbrachte Hilfeangebote unterteilen lassen.

Erwerbsmäßige soziale und pflegerische Hilfe kann in staatlicher, freier und privatwirtschaftlicher Trägerschaft durchgeführt werden. Sie unterscheidet sich von der nicht-erwerbsmäßigen Hilfe wie ehrenamtlicher und Selbsthilfearbeit, dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ)und dem Zivildienst hauptsächlich durch ihre Verberuflichung und das Einkommensinteresse der Helfer, die mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Träger stellen mit dieser Art der Leistungserbringung eine kontinuierliche Versorgung sicher. Soziale und pflegerische Hilfen sind personalintensive Dienstleistungsangebote und damit kostenintensiv. Die Bewältigung sozialpolitischer Standardversorgungsaufgaben, auf die die Betroffenen einen Rechtsanspruch haben, verlangt von den Trägern einen erheblichen Ressourcenaufwand, der überwiegend aus Steuermitteln und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert wird. Nur die gewerblichen Anbieter verkaufen ihre Dienstleistungen meist direkt gegen Entgelt an zahlungskräftige Hilfebedürftige und sind deshalb insbesondere in renditeträchtigen Bereichen des sozialen Sektors aktiv. Ihr Anteil am Markt für soziale Dienstleistungen liegt bei etwa 10 Prozent mit steigender Tendenz, nicht zuletzt wegen der neu eingeführten Plegeversicherung, in der die Vorrangstellung der Freien Träger gegenüber den privatwirtschaftlichen aufgehoben wurde. Die öffentlichen Träger halten 20 Prozent und die freien Träger inclusive Selbsthilfegruppen noch 70 Prozent.

Im Vergleich zu dieser Art von Wohlfahrtsmix (vgl. Blätter der Wohlfahrtspflege 1992)auf der erwerbsmäßig organisierten Schiene erscheint das freiwillige Engagement von ehrenamtlichen Helfern, Selbsthilfegruppen und Absolventen eines Freiwilligen Sozialen Jahres besonders kostengünstig, weil die Helfer nicht im herkömmlichen Sinne entlohnt werden, sondern sie je nach individueller Biographie unterschiedliche Gratifikationserwartungen hegen und sie aus dem Hilfeprozeß für sich einen spezifischen Nutzen ziehen.

Auch die familiale und nachbarschaftliche Hilfe ist als solidarische Hilfebeziehung auf der Basis von Reziprozitätserwartungen unentgeltlich, steht aber nur einem eingeschränkten Nutzerkreis zur Verfügung: Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und Nachbarn. Die partikularistische Orientierung familialer Hilfesysteme läßt viele Hilfebedürftige unversorgt zurück, die auf eigens hergestellte Sozialbeziehungen zurückgreifen müssen, sei es auf das in der Regel zeitlich begrenzte und spontane Engagement ehrenamtlicher Helfer oder auf professionelle Angebote.

Familiale und nicht-familiale Hilfesysteme bieten pflegerische und soziale Hilfen an, die unterschiedlich begründet sind. Sie weisen system- und zielspezifische Strukturmerkmale auf und sind für die Versorgung der Gesellschaftsmitglieder mit sozialen und pflegerischen Leistungen von unterschiedlicher Bedeutung. Ihre Existenz verdanken sie spezifischen Entstehungsbedingungen und ihre Entwicklung und Relation zueinander spiegelt den gesellschaftlichen Wandel.

Von der Entstehungs- zur Entwicklungsgeschichte des Zivildienstes

Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Zivildienstes verweisen auf unterschiedliche Funktionen. Die originäre Funktion des Zivildienstes resultiert aus dem Entstehungszusammenhang und ist vor der Folie der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu sehen, wohingegen die sozialpolitische Funktion eine derivative ist, die sich aus der Entwicklungsgeschichte des Zivildienstes herleitet.

Der Zivildienst ist keine staatliche Dienstpflicht für einen zivilen Dienst, sondern Erfüllung der Wehrpflicht für die jungen Männer, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern. § 1 des Zivildienstgesetzes fordert den Einsatz von Kriegsdienstverweigerern für gemeinwohl orientierte Aufgaben, vorrangig im sozialen Bereich.

Im sozialen Sektor spielen in Deutschland traditionell Nonprofit-Organisationen eine große Rolle (vgl. Goll 1991). Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG 1994) betreiben sie81.000 Einrichtungen und Dienste mit 2,9Mio. Betten bzw. Plätzen im Sozialbereich und beschäftigen knapp 940.000 hauptamtliche Mitarbeiter, die von ca. 1,5 Mio. Ehrenamtlern unterstützt werden. Jedes dritte Allgemeinkrankenhaus befindet sich in verbandlicher Trägerschaft, mehr als die Hälfte aller Behinderten- und Altenheime und über Zweidrittel aller Jugendhilfeeinrichtungen.

Die bedeutende Rolle der Freien Wohlfahrtspflege folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip, das die prioritäre Stellung der Wohlfahrtsverbände begründet hat und dessen Ursprünge sich bis in das Kaiserreich zurückverfolgen lassen (vgl. Backhaus-Maul/Olk 1995). Die Vorrangstellung der verbandlichen Wohlfahrtspflege vor der öffentlichen hat es mit sich gebracht, daß der Staat auf der Suche nach geeigneten Einsatzorten für Zivildienstleistende sich 1958 an die Wohlfahrtsverbände mit der Bitte gewendet hat, in ihren Einrichtungen Plätze für die Ableistung des zivilen Ersatzdienstes einzurichten. Heute stellen die Spitzenverbände mehr als 75 Prozent aller Zivildienstplätze.

Neben der originären Funktion des Zivildienstes, die Erfüllung der Wehrpflicht mit anderen Mitteln zu sein, hat sich im Laufe seiner Entwicklung eine derivative sozialpolitische Funktion herausgebildet. Da der staatliche Dienst der Kriegsdienstverweigerer überwiegend in sozialen Einrichtungen abgeleistet wurde und wird, ist der Zivildienst zu einem bedeutenden sozialen Hilfesystem sui generis geworden, das als nicht-erwerbsmäßig erbrachte, zeitlich befristete Hilfeleistung den professionell und damit erwerbsmäßig agierenden Hilfesystemen in freier Trägerschaft inkorporiert ist.

Aus einem Instrument zur Gleichbehandlung aller Wehrpflichtigen ist ein Instrument zur Absicherung sozialer und pflegerischer Hilfsangebote geworden. Die sozialpolitische Funktion hat zunehmend eine eigenständige Bedeutung gewonnen, während die Wehrgerechtigkeit auf der Strecke geblieben ist. "Diese Ökonomisierung von Zivildienstverpflichteten bestätigt auch das Familien- und Jugendministerium und räumt ein, daß zum Wehrdienst nur nach dem Bedarf der Streitkräfte einberufen wird zum Zivildienst hingegen jeder verfügbare Zivildienstpflichtige und bestätigt mit der Wehrungerechtigkeit den eigenständigen Auftrag der Zivildienstverpflichtung"(Jetter 1995, S. 133).

Zivildienst als soziales Hilfesystem sui generis

Die sozialpolitische Funktion des Zivildienstes ist die Sicherstellung eines sozialen Dienstleistungsangebots durch Zwangsverpflichtung, wobei analytisch zwischen drei Varianten zu differenzieren ist, die das Gebot der Arbeitsmarktneutralität des Zivildienstes unterschiedlich tangieren: Zivildienst als Lückenfüller, Innovation und Jobkiller.

Zivildienst als Lückenfüller: Nach dem Willen des Gesetzgebers müssen die von Zivildienstleistenden wahrgenommenen Aufgaben im sozialen Bereich zusätzlicher Natur sein. Entsprechend wird von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, die in ihren Einrichtungen Zivildienstplätze zur Verfgung stellen, betont, daß Zivildienstleistende als "helfende Hände" insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich aktiv werden, indem sie beispielsweise alten und behinderten Menschen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte ermöglichen durch Begleitung beim Einkaufen, Besuch von Veranstaltungen, bei Spaziergängen oder um als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Viele Zivildienstleistende sehen sich selbst eher als "Mädchen für alles".

Zivildienstleistende übernehmen also häufig Aufgaben, die bei marktmäßiger Versorgung entweder gar nicht angeboten würden oder so kostspielig wären, daß sie von den meisten Nachfragern nicht selbst finanziert werden könnten. Alte, Kranke, Behinderte und Kinder gehören bevorzugt zu der Personengruppe, die derartige Hilfsdienste nicht aus eigenem Einkommen finanzieren kann, weil sie nicht mehr oder noch nicht im Erwerbsleben steht bzw. die Lohnersatzeinkommen nicht ausreichen, um zusätzliche personenbezogene Dienstleistungen zu bezahlen.

Fällt die Organisierung sozialer Hilfen über Märkte aus den genannten Gründen aus und lassen sie sich auch nicht über Familien oder kleine Netze sicherstellen, wird aber ein entsprechendes ergänzendes Angebot für die Zielgruppen als sozialpolitisch erwünscht betrachtet, bleibt nur die Finanzierung aus Steuermitteln und/oder Sozialversicherungsabgaben und die staatliche Bereitstellung, sei es direkt in staatlicher Regie oder durch die Beauftragung nicht-staatlicher Träger. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege beschreiben den Einsatz von Zivildienstleistenden in ihren Reihen denn auch als "Hilfe und Ergänzung für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter. Sie erfüllen in der Regel zusätzliche Aufgaben. Sie müssen sinnvoll dort eingesetzt werden, wo die Gesellschaft einer besonderen Unterstützung bedarf." (BAG 1991, S. 34).

So betrachtet liegt die sozialpolitische Funktion des Zivildienstes in seiner Lückenbüßerrolle in einer auf materiellen Wohlstand ausgerichteten privatwirtschaftlich organisierten Wettbewerbsgesellschaft, die unproduktive Gesellschaftsmitglieder trotz bestehender, aber immer löchriger werdender sozialer Sicherungssysteme auszugrenzen droht. Der Zivildienst dient als billiger Ausweg, um soziale Hilfe im Gewand des Dienstes für das Gemeinwohl staatlich zu erzwingen und damit überhaupt anbieten zu können (vgl. Kuhlmann/Lippert 1991b).

Zivildienst als Innovation: Ein Blick auf die Gliederung der Zivildienstplätze und leistenden nach Tätigkeitsgruppen verrät das breite Spektrum an Einsatzmöglichkeiten. Die BAG formuliert in einer Stellungnahme zu 30 Jahre Zivildienstgesetz: "Der Einsatz von Zivildienstleistenden hat dringenden Bedarf sichtbar gemacht und Angebote an Dienstleistungen geschaffen, auf die auch künftig nicht verzichtet werden kann. Zivildienstleistende haben z.B.die ambulanten Dienste quantitativ und qualitativ in einem Maße mit geformt, daß diese Dienste ohne den Einsatz von Zivildienstleistenden nicht mehr fortgeführt werden könnten." (S. 34).

Eine besondere Stellung nehmen die individuelle Schwerstbehindertenbetreuung (ISB)und der mobile soziale Hilfsdienst (MSHD)ein, die als Erfindung der Wohlfahrtsverbändein Kooperation mit dem Bundesamt für den Zivildienst gelten, um die steigende Zahl von Kriegsdienstverweigerern auf Zivildienstplätzen unterbringen zu können (vgl. Finckh1990). Hierbei handelt es sich um Modellvorhaben zur Förderung selbstbestimmten Lebens von behinderten und alten Menschen. Da es bis dahin ein derartiges Dienstleistungsangebot überhaupt nicht gab, wird hier der Zivildienst auf sozialpolitischem Gebiet innovativ tätig. Der Einsatz von Zivildienstleistenden ermöglicht den Erhalt der Autonomie und verhindert bzw. verkürzt die stationäre Unterbringung der betroffenen Personen. Für Lorenz übernimmt der Zivildienst damit Aufgaben des Arbeitsamtes. Zivildienstleistende werden zu Pionieren für die Erprobung neuer Tätigkeiten und damit Schaffung neuer Arbeitsfelder (s.Lorenz 1990, S. 165).

Zu den Aufgaben eines Zivildienstleistenden in der ISB gehören pflegerische Hilfen imBereich der Grundpflege, Haushaltshilfe, außerhäusliche Hilfen zur Erledigung von Einkäufen, Behördengängen oder zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, Studienbegleitung und zur Freizeitgestaltung.

Die Intensität der Betreuung kann je nach Schweregrad der Behinderung bis zur Ganztags- und Rund-um-die-Uhr-Betreuung gehen, die den Einsatz von 3 Zivildienstleistenden erfordert, die sich alle für diesen Einsatz freiwillig gemeldet haben müssen.

Der Tätigkeitsbereich im MSHD für alte und behinderte Menschen muß die Bereiche Hilfen zur Erhaltung und Erweiterung von Kontakten zur Umwelt, Hilfen im Haushalt und pflegerische Hilfen umfassen.

ISB und MSHD stellen kein ergänzendes, sondern ein völlig neues ambulantes Dienstleistungsangebot dar, das auf eine rege Nachfrage seitens der Hilfebedürftigen und ihrer Angehörigen gestoßen ist und mittlerweile zu den Standardversorgungsaufgaben der Freien Wohlfahrtspflege gehört. Obwohl sie ihren Modellcharakter längst verloren haben, sind sie eine Domäne des Zivildienstes geblieben.

Zivildienst als Jobkiller: Der Zivildienst tritt nicht nur in der Form auf, bestehende Leistungsangebote zu ergänzen und insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich der Dienstleistungsproduktion Lücken zu füllen oder innovativ Neues anzubieten und damit eine Vorreiterrolle im sozialpolitischen Handlungsfeld zu spielen, sondern ihm wird auch nachgesagt, sich als Jobkiller erwiesen zu haben, obwohl die Richtlinien zur Durchführung des Zivildienstgesetzes bestimmen, daß er arbeitsmarktneutral gestaltet werden muß. "Arbeitsmarktneutralität" heißt: Weder dürfen durch den Einsatz von Zivildienstleistenden bestehende Arbeitsplätze abgebaut noch die Errichtung neuer verhindert werden. Die von den Zivildienstleistenden zu erbringenden Aufgaben müssen zusätzlicher Natur sein. M.a.W. beim Wegfall ihres Einsatzes müßten alle Einrichtungen, die Zivildienstleistende beschäftigen, in der Lage sein, ihr Regelleistungsangebot mit den festangestellten Mitarbeitern abzudecken. Dies ist allerdings realitätsfremd,wie der Einbruch im sozialen Dienstleistungsangebot durch die Reduzierung der Zivildienstzeit von 20 auf 15 Monate gezeigt hat.

Ein Blick auf die Personalstruktur der Einsatzstellen und die Einsatzfelder der Zivildienstleistenden zeigt, daß mehr als 10 Prozent der Wochenarbeitsleistung des gesamten Personals in der Freien Wohlfahrtspflege heute von Zivildienstleistenden erbracht wird und siein einigen Bereichen den Hauptanteil des Personals ausmachen (vgl. Staufer 1990, S. 190;Raichle o.J.). Bezogen auf die Situation der Freien Wohlfahrtspflege in Bremen kommt Blandow (1988) zu dem Ergebnis, daß Zivildienstleistende 6 Prozent der qualifizierten und 18 Prozent der unqualifizierten Aufgaben übernommen haben, so daß von Arbeitsmarktneutralität keine Rede sein kann. Beiden kleineren Verbänden sind z.T. sogar mehr Zivildienstleistende als hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt (vgl. Kuhlmann/Lippert1991a; 1991b).

Es steht deshalb zu vermuten, daß der Einsatz von Zivildienstleistenden mit beschäftigungspolitischen Auswirkungen verbunden ist; denn die Bereitstellung von Zivildienstplätzen wurde von den Wohlfahrtsverbänden als Chance wahrgenommen, kostengünstig soziale Dienste auszubauen (vgl. Staufer 1990; Stachowski 1990, S. 171 ff). Zivildienstleistende sind billige Vollzeitkräfte, die flexibel einsetzbar sind. Sie sind Arbeitnehmer mit einem besonderen Status. Für sie gilt das Zivildienstgesetz und nicht das Arbeitsrecht. Sie können zu allen Aufgaben, die in der Einsatzstelle anfallen, herangezogen werden. Es gilt das Prinzip von Befehl und Gehorsam.

Die Zivildienstleistenden erhalten ihren Sold vom Staat. Die Einsatzstellen zahlen die Aufwendungen für verauslagte Kosten des zivilen Wohnens, Bekleidung und Verpflegung. Diese Kosten werden teilweise vom Bundesamt für den Zivildienst erstattet. Mit der Änderung des Zivildienstgesetzes 1994 wurden zwar die Bundeszuschüsse gesenkt und eine Kostenbeteiligung der Beschäftigungsstellen am Sold wiedereingeführt, aber dennoch erbringen Zivildienstleistende im Vergleich zum Einsatz anderer Personalgruppen zu günstigen Preisen Zwangsdienste, die den Trägerndes jeweiligen Dienstleistungsangebots überwiegend marktgerecht entgolten werden (vgl.Kuhlmann/Lippert 1991b). Das gibt zu Spekulationen Anlaß, daß die freien Träger am Einsatz von Zivildienstleistenden sogar verdienen, wenn sie beispielsweise mit den Kostenträgern über Kostenerstattung für reguläres Personal verhandeln, aber nur Zivildienstleistende einsetzen.

Daß der Einsatz von Zivildienstleistenden einen jobkillenden Effekt haben kann, belegt die Aussage eines Landrats, derzufolge in Marburg durch die "Methode Zivis rein-Arbeitskräfte raus" eine jährliche Ersparnis von400.000 Mark entstanden sein soll (vgl. Jetter1995, S. 133). Als weiteres Beispiel dafür, daß der Zwangsdienst "Zivildienst" erwerbsmäßig erbrachte qualifizierte und unqualifizierte soziale und pflegerische Leistungen verdrängt, wird der Bereich der Alten- und Krankenpflege genannt, in dem Zivildienstleistende etwa50.000 Arbeitsplätze blockieren sollen (Lorenz1989b, S. 150 ff.).

Auch für das Rettungswesen gilt, daß der Einsatz von Zivildienstleistenden nur einen Bruchteil der Kosten eines hauptamtlichen Rettungssanitäters von etwa 55.000 Mark pro Jahr ausmacht. Zivildienstleistende sind sogar fast um die Hälfte billiger als die Absolventen eines freiwilligen sozialen Jahres (vgl. Bendele1988, S. 82; Schmidt-Strauch/Becker/Sturmfels 1991, S. 30).

Die Entwicklungsgeschichte des Zivildienstes zeigt, daß er faktisch zu einem Teil des Sozialsystems geworden ist, weil über ihn sozialpolitisch relevante soziale und pflegerische Dienstleistungen in einer Art und Weise abgewickelt werden, die für die Kostenträger wie für die Leistungsanbieter gleichermaßen ökonomisch interessant sind. Er hat sich als Hilfesystem sui generis etabliert und wird von den Nonprofit-Organisationen gezielt eingesetzt.

Was wäre, wenn... - Spekulationen zur Postzivildienstära

Eine sozialpolitische Betrachtung zur Konversion des Zivildienstes muß spekulativ bleiben, auch wenn sie versucht, sich mit der quantitativen und qualitativen Bedeutung des Zivildienstes für den sozialen Bereich auseinanderzusetzen und daraus Einschätzungen für die Nachzivildienstzeit abzuleiten.

Obwohl Zivildienstleistende nur in Hilfesystemen freigemeinnütziger und staatlicher Trägerschaft eingesetzt werden können, haben sie auch erhebliche Bedeutung für die anderen Hilfesysteme. Insbesondere die ambulante Versorgung durch Zivildienstleistende fungiert häufig als Ergänzung und Stützung bestehender familialer Hilfen. Bei Wegfall des Zivildienstes wären die familialen Hilfesysteme durch die komplementäre Funktion des Zivildienstes ebenso betroffen wie die nicht-familialen in staatlicher und freigemeinnütziger Trägerschaft, in denen nach Substitutionsmöglichkeiten Ausschau gehalten werden muß. Auch die privaten Anbieter sind tangiert; denn mit dem Wegfall des Zivildienstes würde sich die Konkurrenzsituation zwischen gewerblichen und Nonprofit-Anbietern sozialer Dienstleistungen ändern, weil letzteren die Gruppe der billigen Vollzeitarbeitskräfte, die überall einsetzbar sind, nicht mehr zur Verfügung steht.

Bei Wegfall des Zivildienstes werden die Karten auf dem Sozialmarkt neu gemischt. Die Auswirkungen sind vermutlich bereichsspezifisch unterschiedlich, je nachdem ob der Zivildienst Lücken gefüllt, innovativ neue Arbeitsfelder erschlossen oder Erwerbsarbeit im sozialen Sektor verhindert respektive reduziert hat.

Auf den ersten Blick scheinen fast alle Beteiligten von der sozialpolitischen Funktion des Zivildienstes profitiert zu haben. Der Staat schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Er kann Ersatzdienstplätze für Kriegsdienstverweigerer nachweisen und gleichzeitig seine Ausgaben für Soziales drosseln. Die Wohlfahrtsverbände haben ihr Dienstleistungsangebot kostengünstig ausgeweitet und sich gegenüber gewerblichen Anbietern Wettbewerbsvorteile verschafft. Den Hilfebedürftigen als Nutzern steht ein verbessertes Angebot zur Verfügung, das von den Selbstzahlern auch noch finanziert werden kann, und für viele Zivildienstleistende, die sich mit der Kriegsdienstverweigerung zwar nicht automatisch für eine Tätigkeit im Wohlfahrtsbereich ausgesprochen haben, ist ihr Einsatz im sozialen Feld mit positiven Erfahrungen verbunden.

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch der Pferdefuß dieses Arrangements (vgl. Finis-Siegler 1992). Obwohl viele Pflegebedürftige mit "ihren Zivildienstleistenden" gute Erfahrungen gemacht haben, wird der hauptsächliche Einsatz von Zivildienstleistenden auch kritisiert. Die zu leistende ambulante Hilfe kann von den Zivildienstleistenden weder in dem notwendigen Umfang noch in der geforderten Qualität erbracht werden, weil sie mangelhaft qualifiziert, häufig überfordert und darüber hinaus nur eine begrenzte Zeit einsetzbar sind. Bedingt durch die kurze Dienstzeit, müssen sich die Leistungsnutzer zu oft auf neue Helfer einstellen, was zu erheblichen psychischen Belastungen auf beiden Seiten führen kann. Pflegebedürftige Frauen sehen sich vielfach durch den Einsatz von Zivildienstleistenden in ihrer Intimsphäre verletzt. Desweiteren bleiben erhebliche Bedenken hinsichtlich der Qualität zwangsweise erbrachter Plegeleistungen und der Qualität der Beziehungen zwischen Zwangshelfer und Hilfeempfänger.

Je weniger der Einsatz von Zivildienstleistenden faktisch arbeitsmarktneutral erfolgt, um so mehr würde sich bei seinem Wegfall im sozialen Sektor der pflegerische und soziale Notstand offenbaren, der Trugschluß käme ans Tageslicht, man könne personalintensive soziale Dienstleistungen auch ohne entsprechende Rekrutierung von qualifizierten Erwerbspersonen anbieten.

Raichle (1993) stellt in einer Untersuchung für die stationäre Altenhilfe fest, daß der Personalmehrbedarf aufgrund der zunehmenden Zahl von pflege- und schwerstpflegebedürftigen alten Menschen durch einen überproportional hohen Ausbau der Personalgruppe Zivildienstleistende aufgefangen wurde, die zur Aufbesserung des von den Kostenträgern vorgeschriebenen unzureichenden Personalschlüssels benutzt wurden. "Die Brisanz dieser Zahl wird erst richtig faßbar, wenn als Vergleich die für Baden-Württemberg in der Pflegesatzkommission in zwei Stufen 1989 bis1991 ausgehandelte Erhöhung von insgesamt7,68 Prozent herangezogen wird. Das bedeutet nämlich, daß bei einem angenommenen Wegfall aller Zivildienstleistenden in der stationären Altenhilfe das Gesamtvolumen des damaligen Ergebnisses zwischen Heimen und Kostenträgern um weitere 150 Prozent erhöht werden müßte." (S. 332).

Der Zivildienst beseitigt so betrachtet keinen Pflegenotstand, sondern schafft ihn. Das gilt selbst für einen großen Teil der Bereiche, in denen Zivildienstleistende zusätzlich sind, sie qualifiziertes Personal entlasten, indem sie im Kontakt mit den Hilfebedürftigen den zwischenmenschlichen Bereich abdecken. Wenn die kommunikativen und sozialen Teile der Pflegearbeit auf die Zivildienstleistenden übertragen werden und sich die Arbeit qualifizierter Pflegekräfte auf die handwerklich korrekte Durchführung von Pflegeeinsätzen reduziert, ermöglicht diese Form der Arbeitsteilung eine Leistungssteigerung der Pflegekraft und senkt die Zahl vorzuhaltenden Fachpersonals. Abgesehen davon, daß diese Art der Arbeitsorganisation jedem modernen Verständnis ganzheitlicher Pflege zuwiderläuft, würde der Wegfall des Zivildienstes, der dieses Arrangement ermöglicht hat, zunächst auch qualitative Einbußen in der Pflege bedeuten.

Die Existenz des Zivildienstes und der Ausbau von Zivildienststellen und -plätzen hat dazu beigetragen, daß sich gesellschaftliche Veränderungen von der Öffentlichkeit quasi unbemerkt vollzogen haben. Die Auswirkungen der gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf den sozialen Sektor blieben so weitgehend verborgen und haben keine konstruktiven Antworten auf die sich stellenden Fragen provoziert. Welche Bedeutung hat die Überalterung der Gesellschaft für die bestehenden Hilfesysteme? Wie wirkt sich die Pluralisierung von Lebenstilen auf sie aus? Was meint die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft und der neuen Kultur des Helfens in bezug auf den Wohlfahrtsmix im sozialen Sektor?

Einen Vorgeschmack auf die Lage im sozialen Sektor ohne Zivildienst gab es 1990, alsdie Dienstzeit um 5 Monate gekürzt und auf einen Schlag über 17.500 Zivildienstleistende entlassen werden mußten. In Bereichen, die hauptsächlich von Zivildienstleistenden besetzt sind wie in der ISB, im MSHD und im Rettungsdienst, waren die Auswirkungen gravierender als im stationären Sektor. In der ISB konnte nur ein Teil der Ausfälle über familiale Hilfen aufgefangen werden. Ein Teil der ambulant Versorgten mußte stationär untergebracht werden. Schätzungen gehen bei Abschaffung des Zivildienstes davon aus, daß etwa ein Drittel der Betreuten stationär versorgt werden müßte.

Im Unterschied dazu gab es bei der neuerlichen zweimonatigen Verkürzung der Zivildienstzeit im Januar 1996 keine Einbrüche, weil die Debatte um die Dienstzeitverkürzung bereits lange vor Inkrafttreten geführt wurde und die Dienststellen eine entsprechende Vorlaufzeit hatten, um sich auf die neue Situation einzustellen. Um so erstaunlicher ist es, daß die meisten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bislang wenig konkrete Überlegungen angestellt zu haben scheinen, wie sie auf den Fall der Abschaffung der Wehrpflicht reagieren wollen, weil sie ihre Abschaffung für wenig wahrscheinlich halten. Gegenüber der Öffentlichkeit vertraut man auf entsprechende ministerielle Bekundungen und verfährt ansonsten nach dem Motto, "daß nicht sein kann, was nicht sein darf."

Sozialpolitische Substitutionsstrategien

Die Konversion des Zivildienstes hat eine personal- und eine finanzpolitische Seite. Personalpolitisch geht es um die Substitution der Personalgruppe "Zivildienstleistende" durch andere Gruppen und deren Rekrutierbarkeit, finanzpolitisch darum, wer künftig die sozialen Dienstleistungen bezahlen soll und zu welchen Anteilen.

Bislang hat der Zivildienst den Bundeshaushalt mit ca. 2,5 Mrd. Mark belastet, die der Bund bei Wegfall des Zivildienstes einsparen würde und zur Sanierung des Staatshaushalts verwenden könnte. Wenn die Aufrechterhaltung des bislang unter Mitwirkung des Zivildienstes erbrachten Dienstleistungsangebots sozialpolitisch gewollt ist, bedeutet Konversion allerdings, daß die staatlichen Mittel auch künftig zur Finanzierung dieser Dienstleistungen in einem neuen Produktionsprogramm eingesetzt und entsprechend umgewidmet werden müßten. Angesichts der gängigen Verschiebebahnhofpraxis und dem "Töpfchendenken", finanzielle Belastungen nach Möglichkeit auf andere Kostenträger abzuwälzen und nur den jeweils eigenen Haushalt im Blick zu haben, stehen die Chancen hierfür eher schlecht.

Personalpolitisch könnte Konversion des Zivildienstes so verstanden werden, daß man einen Zwangsdienst durch einen anderen substituiert: statt Wehrpflicht und Zivildienst eine allgemeine Dienstpflicht, oder aber Zwangsdienste durch freiwillige Dienste ersetzt.

Im ersten Fall wird ein Hilfesystem durch ein strukturidentisches ersetzt: ein nicht-familiales, nicht-erwerbsmäßiges System auf der Basis einer zeitlich begrenzten, erzwungenen Solidaritätsleistung. Der zweite Fall weist Strukturähnlichkeiten auf, unterscheidet sich jedoch in einem Merkmal grundlegend: Die zeitlich begrenzten Solidaritätsleistungen sind freiwillig.

Eine dritte Variante rekurriert auf ein grundsätzlich anderes Hilfesystem. Es ist zwar auch nicht-familial, aber erwerbsmäßig: Substitution des Zivildienstes durch Beschäftigung von qualifizierten und nicht-qualifizierten Arbeitskräften.

Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht: Bereits seit einiger Zeit wird die Debatte geführt, ob man die allgemeine Wehrpflicht nicht durch eine allgemeine Dienstpflicht ersetzen soll, die den Betroffenen die Wahl läßt zwischen Sozial-, Militär- und Umweltbereich(vgl. 4/3 Sonderheft 1995; Blätter der Wohlfahrtspflege 1994b; Fleckenstein 1995). Die Argumente reichen von der aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen Lage entstandenen Wehrungerechtigkeit, der Förderung des Gemeinsinns bei jungen Menschen als Reaktion auf zunehmende soziale Kälte und Entsolidarisierung, den Erwerb positiver sozialer Lernerfahrungen über das Thema Gleichbehandlung von Männern und Frauen bis hin zum Ausgleich von Mitarbeitermangel im sozialen Sektor oder gar Entlastung des Arbeits- und Ausbildungsmarktes.

Abgesehen davon, daß die Einführung einer Dienstpflicht eine Grundgesetzänderung , erlangen würde, weil im Art. 12 GG ein Zwangsarbeitsverbot formuliert ist und eine Dienstpflicht auch gegen internationales Recht verstoßen würde, und aufgrund unrühmlicher historischer Erfahrungen mit einem Arbeitsdienst in Deutschland, müssen erhebliche Bedenken dagegen angemeldet werden, solidarisch zu lösende, gesamtgesellschaftliche Probleme durch Zwangsmaßnahmen auf der Basis von Naturalleistungen angehen zu wollen. Motivation zu sozialen und pflegerischen Hilfeleistungen läßt sich nichtstaatlich erzwingen.

Wenn in der augenblicklichen Diskussion um die Wehrpflichtarmee als Auslaufmodell auf die Einführung einer Dienstpflicht rekurriert wird, verweist diese Argumentation auf die eminent sozialpolitische Funktion, die der Zivildienst bislang erfüllt hat, und macht die Befürchtung offenkundig, daß ohne billige Ersatzarbeitsleistungen der soziale Sektor zusammenbricht. Um Kostensteigerungen durch professionelle Kräfte zu vermeiden oder aus Furcht, daß sich auf freiwilliger Basis nicht genügend Helfer finden lassen, wird für Zwangsverpflichtung plädiert, die mit Sozialisationsargumenten garniert wird. Wie eine neue Kultur des Helfens staatlich verordnet werden kann, bleibt unklar.

Auch aus ökonomischer Sicht ist die Einführung eines Pflichtjahres problematisch, weil die Organisierung und Durchführung mit erheblichen Kosten verbunden ist, für die Betroffenen hohe Opportunitätskosten in Form von Naturalleistungen und Einkommenseinbußen entstehen und es gesamtwirtschaftlichzu einer Fehlallokation volkswirtschaftlicher Ressourcen kommt. Zur Kostenbelastung gibt es unterschiedliche Schätzungen. Beck (1995)kommt in seiner Berechnung auf volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von rund 39 Mrd. Mark für die Heranziehung eines Jahrgangs von Männern und Frauen zu einem Pflichtjahr, die allerdings nur zu einem Teil für den Staatshaushalt budgetwirksam werden.

Pflichtdienste verbilligen das Angebot an Pflegeleistungen genauso künstlich wie der Zivildienst. Damit läßt sich der Pflegenotstand kaum beseitigen, weil in den Pflegeberufen insbesondere qualifizierte Fachkräfte und nicht Hilfskräfte fehlen (vgl. Beck, S. 20). Anreize, einen Pflegeberuf zu ergreifen, werden durch die Verdrängungseffekte reduziert. Das Sozialprestige eines Sektors, in dem hauptsächlich Hilfskräfte arbeiten, nimmt Schaden. Die überproportionale Beschäftigung un- und angelernter Arbeitskräfte drückt darüber hinaus die in diesem Sektor erzielbaren Einkommen.

Die Einführung eines Pflichtjahres zur Behebung des Pflegenotstands heißt den Bock zum Gärtner machen: "Der Vorschlag ist ökonomisch unsinnig und teuer, er kann weder den Pflegenotstand beheben noch schafft er zusätzliche Arbeitsplätze. Der Staaatshaushalt wird nur um den Preis erhöhter volkswirtschaftlicher Kosten und verringerter gesamtwirtschaftlicher Effizienz entlastet, ein Resultat, das keinen Ökonomen befriedigen kann."(Beck, S. 21)

Die Attraktivität des Pflichtjahres liegt darin, daß es im Hinblick auf den sozialen Sektor ein funktionales Äquivalent für den Zivildienst darstellt, das die Gesellschaft der Diskussion darüber enthebt, was soziale und pflegerische Leistungen kosten dürfen, wie sie qualifiziert erbracht und finanziert werden, und gleichzeitig die Illusion erzeugt, die Personalrekrutierung über die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten lenken zu können.

Ausbau freiwilliger sozialer Dienste: Gerade der Gedanke der Zwangsverpflichtung von Helfern im sozialen Bereich stößt bei vielen auf Ablehnung, die andere im Zusammenhang mit der Einführung einer Dienstpflicht entwickelten Argumente durchaus bejahen.

So treten die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege für eine Stärkung des freiwilligen Engagements im sozialen Sektor ein, mit dem der Einzelne seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft unter Beweis stellen, Solidarität leben kann (vgl. Gohde 1995).

Neben dem ehrenamtlichen Engagement vieler Männer und Frauen gibt es zahlreiche junge Leute, die ein freiwilliges soziales Jahr, ein ökologisches Jahr oder Friedensdienste ableisten.

Im FSJ übernehmen vor allem junge Frauen Hilfstätigkeiten im pflegerischen, sozialpflegerischen und hauswirtschaftlichen Bereich. Junge Leute zwischen 17 und 25 Jahren haben hier Gelegenheit, in Ergänzung zu professionellen Helfern einer Vollzeittätigkeit nachzugehen (vgl. Schmidt-Strauch/Becker/Sturmfels 1991; Hummel 1988; Hummel-Beck1990).

Im Unterschied zum Zivildienst steht die Einrichtung des FSJ in direktem Zusammenhang mit dem Pflegenotstand, der Personalnot in den sozialen Berufen. Dem 1954 für den kirchlichen Bereich eingeführten "Diakonischen Jahr" folgte 1964 eine bundeseinheitliche Regelung für das FSJ. Der Gesetzgeber interpretiert das FSJ als soziales Bildungsjahr. Von dieser Möglichkeit machen zu über 90Prozent Frauen Gebrauch. Nachdem seit 1979die Teilnehmerzahlen zurückgegangen sind, steigen sie seit einigen Jahren wieder an. Allerdings haben nur 0,05 Prozent der betroffenen Altersklasse 1990 ein FSJ abgeleistet. Auf einen FSJler kommen 13,8 Zivildienstleistende(vgl. Röder 1994). Die geringe Teilnehmerzahl muß allerdings im Kontext der angebotenen Stellen gesehen werden, die für die freien Träger kostspieliger sind als Zivildienstplätze.

Aus Pilotprojekten im ökologischen Bereich sind mittlerweile Regelangebote geworden.

Zu den Friedensdiensten gehören Einrichtungen wie die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, die Versöhnungsarbeit mit Polen und Israel leisten, aber auch in anderen Ländern Projekte betreiben.

Für die freiwilligen sozialen Dienste gibt es inzwischen mehr Bewerber als Stellen. Deshalb plädieren die Wohlfahrtsverbände auch für mehr staatliche Förderung (s. Haug 1995).Inwieweit das in Vorbereitung befindliche Freiwilligengesetz hilfreich sein wird, sei dahingestellt (vgl. Schophuis 1992).

Um freiwillige Reserven zu mobilisieren, kommen grundsätzlich alle Gesellschaftsmitglieder in Betracht, junge Menschen ebenso wie ältere, Erwerbstätige und Nichterwerbstätige; jedoch müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Idee, Zeit in Arbeits-, Frei- und Sozialzeit einzuteilen, setzt eine entsprechende gesellschaftliche Organisation voraus. Auch ehrenamtliches und freiwilliges Engagement ist nicht voraussetzungslos. Zeit muß vorhanden, der eigene Lebensunterhalt gesichert und ein privater Nutzen aus dem Einsatz erwartbar sein. Alle Untersuchungen über Beweggründe für freiwilliges Engagement belegen einen Rückgang christlich motivierten Einsatzes und ein Vordringen von individuellen Nutzenüberlegungen in Abhängigkeit von der eigenen Biographie. Entweder wollen die Helfer soziale Lernerfahrungen machen, einer sinnvollen Tätigkeit neben Berufs- oder Hausarbeit oder im Alter nachgehen, oder sie benutzen ehrenamtliches Engagement als berufliche Einstiegshilfe oder berufsbezogenes Übungs- und Orientierungsfeld. Die unterschiedliche Gratifikationserwartungen lassen darauf schließen, daß sich der viel diskutierte Wertewandel auch im Bereich ehrenamtlicher sozialer Hilfe ausgewirkt hat.

Versuche, die wegfallende Arbeitsleistung der Zivildienstleistenden durch verstärktes freiwilliges Engagement zu kompensieren, müssen diesen Umständen Rechnung tragen. Da bereits jetzt ca. 17 Prozent der Bevölkerung nach einer Zeitbudgeterhebung 1991/92 (Statistisches Bundesamt 1996) ehrenamtlich tätig sind, wobei soziale Hilfeleistungen nicht erfaßt sind, die verbandliche Wohlfahrtspflege von etwa 1,5 Mio. ehrenamtlich engagierten Menschen ausgeht und repräsentative Bevölkerungsumfragen zu Zahlen zwischen 7 und 8Mio. Ehrenamtlern kommen, die sich zum großen Teil zusätzlich in den Bereichen engagieren, in denen auch Zivildienstleistende eingesetzt sind, ist es durchaus fraglich, ob sich durch unterschiedliche staatliche Förder- und Unterstützungsprogramme wie beispielsweise den jüngsten Vorschlag von Jetter (1996), eine "Soziale Ehrenkarte" als Anreiz einzuführen, freiwilliges Engagement in nennenswertem Umfang über das bereits jetzt praktizierte Maß hinaus aktivieren läßt.

Das Prinzip der Freiwilligkeit bringt es außerdem mit sich, daß die Helfer das Einsatzfeld selbst wählen. Erfahrungen mit dem FSJ u.a. Formen freiwilligen Engagements belegen, daß anstrengende und wenig abwechslungsreiche Tätigkeiten nicht gewählt werden. Pflegerische Arbeitsfelder sind wesentlich unbeliebter als der erzieherische Hilfsdienst. Ähnliches spiegelt auch die unterschiedliche Verteilung der Belegungsquoten im Zivildienst wider. Viele Plätze in der ISB und in der Altenpflege sind unbesetzt, weil insgesamt das Platzangebot (177.000) die Bewerberzahl(140.000) übersteigt und damit für die Zivildienstleistenden faktisch Wahlmöglichkeiten existieren.

Experten gehen davon aus, daß sich bei Wegfall des Zivildienstes die auftretenden Lücken im sozialen Sektor kaum durch freiwilliges Engagement schließen lassen, insbesondere dann nicht, wenn Zivildienstleistende eben nicht arbeitsmarktneutral eingesetzt waren, sondern als Vollzeitkräfte Standardversorgungsaufgaben wahrgenommen haben. Die Bewältigung derartiger Aufgaben durch freiwilligen und spontanen Einsatz, der auch jederzeit widerrufen werden kann, wäre zudem ein Widerspruch in sich.

Beschfätigungspolitische Offensive: Eine dritte sozialpolitische Substitutionsstrategie könnte darin bestehen, die als Arbeitskräfte ausfallenden Zivildienstleistenden durch Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt zu ersetzen. Die Suche nach geeigneten Erwerbspersonen auf dem Arbeitsmarkt für Sozial-und Pflegeberufe wäre zugleich ein Anerkenntnis, daß die Ausübung sozialer und pflegerischer Tätigkeiten an Qualifikationen gebunden ist, die in Berufen gebündelt sind und bestimmten professionellen Standards unterliegen.

Für qualifizierte Tätigkeiten, die bislang von Zivildienstleistenden zum Teil auch ohne pflegefachliche Ausbildung übernommen wurden, wäre Fachpersonal zu beschaffen, für unqualifizierte Arbeit entsprechendes Hilfspersonal etc.

Hinsichtlich der zu erwartenden Kostenbelastung kommen Blandow (1994) und von Boetticher (1994) in zwei unterschiedlichen Modellrechnungen zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Blandow kommt bei seinen Berechnungen zu dem Ergebnis, daß dem von Zivildienstleistenden erbrachten Arbeitswert von3,3 Mrd. Mark Aufwendungen des Bundes und der Wohlfahrtspflege von 2,3 Mrd. Mark gegenüberstehen, so daß beim Ersatz von Zivildienstleistenden durch reguläre Personalgruppen noch 1 Mrd. Mark aufgebracht werden müßte, um die gleiche Arbeitsleistung sicherzustellen. Unter der Annahme, daß regulär eingearbeitetes Personal eine höhere Arbeitsproduktivität als Zivildienstleistende hat, muß entsprechend weniger Personal ersetzt werden. Je nach benötigter Personalgruppe - qualifizierte Pflege- und Betreuungskräfte und Hilfskräfte, qualifizierte und angelernte Handwerker sowie Kraftfahrer, Rettungshelfer und andere Helfer - kommt er auf einen Wiederbeschaffungswert von knapp 3 Mrd. Mark. Im Vergleich zu den Zivildienstleistenden bleibt eine Finanzlücke von 0,7 Mrd. Mark, die unter der Annahme, daß es sich bei den Beschäftigten zum Teil um ehemals Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger handelt, nahezu ausgeglichen werden könnte, weil deren Beschäftigung die sozialen Haushalte entlastet und Steuer einnahmen bringt. "Vielleicht etwas zu kühn behauptet, aber der Tendenz nach richtig: Unter Kostengesichtspunkten und volkswirtschaftlich gesehen waren und sind ZDL als Arbeitskräfte im Wohlfahrtswesen entbehrlich. So schön dieses Ergebnis in politisch-ästhetischer Hinsicht auch ist, relevant ist es nur, wenn es beim Wegfall des Zivildienstes den politischen Willen gäbe, das bislang für den ZDL aufgebrachte Geld der Zivildienstverwaltung und womöglich auch die sonstigen Gewinne wieder für soziale Zwecke einzusetzen" (Blandow 1994, S. 66).

Von Boetticher legt eine andere Modellrechnung, jedoch mit ähnlichem Resümee, vor: "Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die weit verbreitete Annahme, ZDL seien billige Arbeitskräfte und der jetzige soziale Standard sei ohne sie bzw. andere vermeintlich billige, zwangsverpflichtete Arbeitskräfte nur mit immensem finanziellen Mehraufwand haltbar, einer sehr engen, betriebswirtschaftlich ausgerichteten Sichtweise entspringt. Bei Einbeziehung gesamtwirtschaftlicher Überlegungen hingegen scheint der Verzicht auf den Zivildienst sehr wohl ohne Abstriche bei den Leistungen im sozialen Bereich möglich zusein. Voraussetzung dafür wäre allerdings eine Umschichtung der Einsparungen und Mehreinnahmen zugunsten der KostenträgerInnen wie z.B. den Krankenversicherungen und Sozialämtern" (S. 60 f). Er errechnet einen Zivildienstwert (tarifliche Entlohnung derZDL) von 4,5 Mrd. Mark, deren 100prozentigerErsatz durch tariflich bezahlte Arbeitskräfte5,3 Mrd. Mark an Kosten verursachen würde. Da auch er davon ausgeht, daß weniger hauptamtliche Arbeitskräfte notwendig werden, reduzieren sich die Kosten auf 4,8 Mrd. Mark. Den Kosten stehen Einspareffekte gegenüber: Etat des Bundesamtes für den Zivildienst, Dienststellenkosten für Zivildienstleistende, Regiekosten in Zusammenhang mit der Wehrpflicht.

Bei Wegfall des Zivildienstes müßten90.000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden, die lediglich Zusatzkosten von 400 Mio. Mark verursachen würden. Ob sich die entsprechende Anzahl von Erwerbspersonen beschaffen ließe, wird unter Kennern unterschiedlich beurteilt.

Am einfachsten dürfte die Substitution imBereich der Krankenpflegehelfer und Sozialpfleger sein. Nach Angaben des IAB könnten sich die Beschftigungschancen für Pflegehilfskräfte verbessern, die offensichtlich durch den Einsatz von Zivildienstleistenden zunehmend aus der Beschäftigung gedrängt wurden. Dies spiegeln auch die Arbeitsmarktdaten wieder. Im September 1995 gab es im alten Bundesgebiet zwar 9.048 arbeitslos gemeldete Krankenschwestern/pfleger bei 5.930 offenen Stellen im Vergleich zu 14.556 arbeitslosen Krankenpflegehelfern bei nur 1.134 offenen Stellen.12.197 arbeitslosen Altenpflegern standen3.446 offene Stellen gegenüber und in der Gruppe Sozialarbeiter/Sozialpfleger kamen auf 4.702 offene Stellen 19.674 Arbeitssuchende. Die Zahlen illustrieren darüberhinaus, daß es offensichtlich nicht gelungen ist, soziale Berufe attraktiv zu machen, daß diejenigen, die einen Pflegeberuf gewählt haben, die angebotenen Arbeitsplätze auch besetzen wollen. Die Gewinnung von qualifiziertem Personal ist unter den gegebenen Bedingungen noch eine ungelöste Aufgabe. Während es im Bereich der Altenpflege überhaupt zuwenig qualifiziertes Personal gibt, sind Engpässe im Krankenhausbereich großenteils darauf zurückzuführen, daß das vorhandene Fachpersonal nach nur kurzer Berufstätigkeit aus dem Pflegeberuf ausscheidet. Niedrige Grundvergütung, hohe Überstunden- und Nachtdienstbeanspruchung bei geringer Bezahlung, insgesamt psychisch, physisch und sozial extrem belastende Arbeitsbedingungen und niedriges gesellschaftliches Prestige führen zur Abwanderung in andere Berufe (vgl. v. Zamek/Schäfer 1989;Meier/Walzik 1991; Min. f. Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung Baden-Württemberg 1989). Die sozialen Dienste brauchenaber die engagierte Arbeit von Mitarbeitern der Pflegeberufe, die nicht nur gut ausgebildet, sondern auch leistungsgerecht bezahlt werden. Der Einsatz von Zivildienstleistenden hat diese Misere bisher nicht nur verdeckt, sondern begünstigt. Die Überbeanspruchug des beschäftigten Pflegepersonals resultiert nicht zuletzt daraus, daß es zu wenig Fachkräfte in diesem Bereich gibt und zu viele Hilfskräfte, die ihre Anleitung benötigen.

Auch im Rettungswesen fehlt es an qualifiziertem Personal. Mangelnde Anerkennung des Berufsbildes als Rettungssanitäter und die Eigenfinanzierung der Ausbildung haben in Verbindung mit dem Interesse der Träger von Rettungsdiensten am Einsatz von billigen Zivildienstleistenden dazu beigetragen, daß es zu wenig hauptamtliche Rettungssanitäter gibt(vgl. Stachowski 1990, S. 173 ff.). Deshalb wäre für Zivildienstleistende in diesem Bereich auf dem Arbeitsmarkt kurzfristig kaum Ersatz zu beschaffen.

Konversion des Zivildienstes durch Schaffung regulärer Beschäftigungsverhältnisse imsozialen Sektor wäre aber zugleich ein Beitrag, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren und Menschen eine Arbeitsgelegenheit zu verschaffen, die ihnen ihre Existenzsicherung aus eigener Kraft ermöglicht.

Diese Strategie wäre zweifelsohne für die sozialen Einrichtungen, die Zivildienstleistende beschäftigen, die kostenintensivste Lösung. Berechnungen belegen das günstige Kosten-Leistungs-Verhältnis beim Einsatz von Zivildienstleistenden für die Nonprofits. Blandow(1988) und Kraus (1988) kommen in zwei unabhängig voneinander durchgeführten Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß 1987 jeder Zivildienstleistende einen "Netto-Gewinn" von etwa 33.000 Mark erwirtschaftet hat. Dabei wurden die von den Zivildienstleistenden erbrachten Dienstleistungen mit den üblichen Marktpreisen bewertet. Unter der Annahme eines Tariflohns von nur 8,70 Mark pro Stunde würde die Einsatzstelle pro Jahr immer noch ca. 10.000 Mark durch die Beschäftigung von Zivildienstleistenden einsparen. Die "Gewinne" fließen aber nicht den Zivildienstleistenden als Einkommen zu, sondern den Haushalten der Trägerorganisationen. Insgesamt erbrachten die Zivildienstleistenden geldwerte Leistungen in Höhe von etwa 2,3 Mrd. Mark, von denen75 Prozent den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege und ihren Mitgliedsorganisationen zugute kamen. Die Wohlfahrtsverbände ziehen also einen erheblichen wirtschaftlichen Nutzen aus dem Einsatz von Zivildienstleistenden. Für die Einsatzstellen sind sie deshalb ökonomisch interessant und nicht so leicht zu ersetzen. Selbst im Vergleich mit Absolventen eines freiwilligen sozialen Jahres schneiden sie besser ab, weil sie nicht nur billiger, sondern auch flexibler einsetzbar sind.

Einrichtungsspezifische Strategien

Es verwundert daher nicht, wenn die bisherigen Einsatzstellen vom Wegfall der Wehrpflicht Angebotseinschränkungen im Sinne quantitativer und qualitativer Einbußen und eine Verteuerung des verbleibenden Angebotserwarten. Je nach Refinanzierungsmöglichkeiten durch die jeweiligen Kostenträger und die Rekrutierungschancen für Ersatzkräfte wird die Konversion in den verschiedenen Einsatzfeldern von Zivildienstleistenden unterschiedliche Gestalt annehmen und die Angebotsstruktur sozialer Dienstleistungen verändern.

Im gesamten Rettungsdienst sind 6.000 Zivildienstleistende eingesetzt. Ein hauptamtlicher Rettungssanitäter kostet jährlich etwa55.000 Mark. Der Einsatz eines Zivildienstleistenden in dieser Funktion verursacht ein Zehntel der Kosten (nach Kuhlmann/Lippert1991b). Da die Kostendeckelungsverfügung des Gesundheits-Strukurreform-Gesetzes auch für den Rettungsdienst gilt, gäbe es für die Rettungsdienste keine Refinanzierungsmöglichkeit über die Kostenträger, wenn billige Zivildienstleistende durch teurere Hauptamtler ersetzt würden.

Angebotseinschränkungen aufgrund finanzieller und personeller Probleme sind auch für die ISB wahrscheinlich. Viele Hilfebedürftige müssen künftig auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben verzichten, weil die Hilfe für Selbstzahler kaum mehr sozialverträglich zu gestalten sein wird. Heimeinweisungen wären vermehrt die Folge, d.h. Substitution von durch den Einsatz von Zivildienstleistenden kostengünstigen ambulanten durch teurere stationäre Dienstleistungen mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Sozialhaushalte.

Insgesamt wird erwartet, daß die Dienstleistungsdichte in der mobilen Versorgung sinkt und zwar um so stärker, je mehr Zivildienstleistende diesen Bereich getragen haben. Für die Einrichtungen gibt es verschiedene Substitutionsmöglichkeiten: Angebotseinschränkungen auf der output-Seite, Optimierung des Produktionsprozesses und/oder input-Variationen, insbesondere in Form verstärkten Einsatzes von ehrenamtlichen Helfern, FSJlern und Praktikanten und Aufstockung des hauptamtlichen Personals im Rahmen regulärer oder sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse.

Je weniger sich steigende Produktionskosten auf den Endnachfrager oder die Kostenträger überwälzen lassen, um so eher werden soziale Einrichtungen versucht sein, die Arbeitsleistung der Zivildienstleistenden durch möglichst billige Arbeitskräfte zu ersetzen, so daß auch im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege mit einem Anstieg sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse zu rechnen wäre.

Konversion des Zivildienstes als Chance

Aus sozialpolitischer Sicht bedeutet Konversion des Zivildienstes, Ersatz für ein ausfallendes Hilfesystem zu finden, das sich im Laufe der Jahre für den sozialen Sektor quasi unentbehrlich gemacht zu haben scheint. Es geht um die Suche nach einem neuen Produktionsprogramm für die bislang angebotenen sozialen und pflegerischen Leistungen und seine Finanzierung.

Der mögliche Wegfall des Zivildienstes sollte keine Katastrophenstimmung erzeugen. Erläßt sich auch als Chance interpretieren, die bisherigen Arrangements kritisch Revue passieren zu lassen und ein alternatives Produktions- und Finanzierungsprogramm zu entwickeln, das den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht und nutzerfreundliche Dienstleistungen anbietet.

Der Zivildienst konnte seine bedeutende Rolle entwickeln, weil er die Illusion erzeugt hat, er könne fast zum Nulltarif eine Versorgungs- und Personallücke im sozialen Bereich schließen. Das hat ihn zum trojanischen Pferd der Sozialpolitik gemacht.

Der soziale Wandel hat dazu geführt, daß viele Menschen heute nicht mehr auf familiale Hilfesysteme zurückgreifen können, um soziale und pflegerische Unterstützung zu erhalten. Diese Entwicklung wird sich in Zukunft noch verschärfen. Die demographischen Veränderungen und die weiter steigende Erwerbsneigung von Frauen werden dazu führen, daß immer mehr ältere und hochbetagte Menschen auf nicht-familiale Hilfesysteme angewiesen sind. Die Verkleinerung der Haushalte und die Pluralisierung von Lebensstilen erfordern gleichfalls ein differenziertes soziales und pflegerisches Dienstleistungsangebot in unterschiedlich strukturierten Hilfesystemen.

Auf eine komplexer werdende soziale Wirklichkeit kann nur mit differenzierten Angeboten reagiert werden, indem der Wohlfahrtsmix im sozialen Sektor aktiviert und die Hilfesysteme je nach ihrer Eigenlogik gezielt eingesetzt werden. Nicht für jede pflegerische und soziale Dienstleistung braucht man Fachkräfte. Vieles läßt sich über ehrenamtliches und freiwilliges Engagement bewältigen, wenn man entsprechende Voraussetzungen schafft. Anderes setzt den Einsatz professioneller Kräfte voraus, die sich dauerhaft nur rekrutieren lassen, wenn der Sektor sozialer Berufe eine Aufwertung erfährt.

Es wäre zu übe

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