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Funktion, Bedeutungswandel und ideengeschichtliche Begründungen von allgemeiner Wehrpflicht

Martin Kutz

Dr. Martin Kutz, Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Fachbereich Sozialwissenschaften; Vortrag auf der Fachtagung "Auslaufmodell Wehrpflichtarmee", die die Zentralstelle KDV und die Evangelische Akademie Thüringen am 1./2. November 1996 in Eisenach durchführte. Die Dokumentation der Tagung kann als Broschüre bestellt werden. Allgemeine Wehrpflicht - wirklich allgemein?

Die preußische Armee im 19. Jahrhundert ist als Armee der allgemeinen Wehrpflicht bekannt. Das war sie aber nicht, wenn ich "allgemeine Wehrpflicht" so definiere, daß ein Jahrgang junger Männer möglichst geschlossen den Wehrdienst leisten muß. Demgegenüber ist festzustellen, daß in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts in Preußen nie mehr als ein Drittel eines Jahrganges eingezogen wurde. Das hat verfassungspolitische Hintergründe, und es hat damit zu tun, daß der preußische Staat arm war. Eine Erweiterung der Armee kam aus ökonomischen Gründen kaum in Frage. Es bestand eine Zusage der Monarchie, Kreditaufnahmen nur mit einem Parlament vorzunehmen. Da man aber kein Parlament haben wollte, konnte man keine Staatskredite aufnehmen, war deshalb finanzpolitisch sehr eingeengt, und verzichtete lieber auf eine große Armee und die Ausschöpfung der Wehrpflicht.

In den anderen deutschen Staaten gab es ebenfalls die Wehrpflicht. Sie wird als Rechtsinstitut eingeführt, aber sie ist überall durchlöchert. In manchen deutschen Staaten ist die Stellvertretung erlaubt. Das heißt: Derjenige, der es sich leisten konnte, bezahlte jemand anderen dafür, den Dienst für ihn abzuleisten.

Im Deutschen Kaiserreich gibt es eine ähnliche Situation wie in Preußen vor 1860.Man hat zwar das Rechtsinstitut der allgemeinen Wehrpflicht, aber durchgehend wendet man es nicht an. In dieser Zeit ist selten auch nur die 50 Prozentmarke eines Jahrgangs durch Einberufungen erreicht worden. Man hat außerdem in erster Linie die jungen Leute vom Lande und aus den Kleinstädten eingezogen, weil man bei den Großstädtern, insbesondere bei den Industriearbeitern, Angst vor Revolutionären hatte. Die Weimarer Republik und frühe Nazizeit bis 1935 sind allgemein bekannt als wehrpflichtfrei.

Erst in der Bundesrepublik gibt es 1956 wieder eine allgemeine Wehrpflicht. Ich gehöre zu den ersten Jahrgängen, die 1960 in größerem Umfange wirklich eingezogen wurden, aber es waren damals nicht mehr als 20 Prozent des Jahrgangs. Viel mehr als ein Drittel eines Jahrganges sind es nie geworden. Also: Allgemein war und ist die Wehrpflicht auch in der Bundesrepublik nicht. Eine Überschlagsrechnung für die Wehrpflicht in der DDR zeigt, daß auch hier kaum mehr als die Hälfte der Wehrpflichtigen tatsächlich Militärdienst geleistet haben.

Meine allgemeine Feststellung ist also: Allgemeine Wehrpflicht ist ein Rechtsinstitut, das in der Realität nur in sehr begrenztem Maße überhaupt genutzt worden ist. Man kann also nicht sagen, daß die allgemeine Wehrpflicht zum Traditionsbestand deutschen Militärs gehört. Sie hat nur als Rechtsinstitut Traditionsbestand, nicht aber als reale soziale Einrichtung. "Allgemein" ist sie nur in den Weltkriegen wirklich geworden.

Allgemeine Wehrpflicht und Demokratie

Seit Gründung der Bundeswehr geistert durch die politisch ideologische Auseinandersetzung die Vorstellung von der Wehrpflicht als demokratischer Institution.

Daß die allgemeine Wehrpflicht das "legitime Kind der Demokratie" sei, ist eine Sage, aber wie bei allen Sagen steckt ein realhistorischer Kern in dem Satz. Tatsächlich haben Demokratie und allgemeine Wehrpflicht in Deutschland bis 1945 nichts miteinander zutun, in der deutschen Geschichte ist Wehrpflicht mit dem antidemokratischen, ja totalitär verbrecherischen Staat mehr verkoppelt als mit der Demokratie.

Das obige Heuß Zitat lebt von einem Mißverständnis, das mit Heuß' liberaler Herkunft und seiner starken Orientierung an seinem Lehrer Friedrich Naumann zu tun hat, der die Vorstellung einer möglichen Demokratisierung des Kaiserreiches durchaus mit Großmachtpolitik verbunden hat und von daher Demokratie und Wehrpflicht für Entsprechungen hielt.

Schauen wir uns statt der Sage zunächst die historischen Realitäten an:

In Deutschland wird die allgemeine Wehrpflicht erstmals in Preußen im Zuge der Reformen nach dem Zusammenbruch des friederizianischen Staates und seiner Armee bei und nach Jena und Auerstädt 1806 eingeführt (Gesetz vom 3.9.1814). Die allgemeine Wehrpflicht ist notwendig, weil Berufssoldaten in der Finanz - und Staatskrise nicht bezahlbar sind, und es hat acht Jahre gedauert, bis sie nachdem Zusammenbruch der alten Armee gesetzlich verankert werden konnte.

Die preußischen Reformer waren alle keine Demokraten, selbst der am meisten jakobinischer Tendenzen verdächtige Carl von Clausewitz konnte sich nicht einmal ein reguläres Parlament für den preußischen Staat vorstellen. Der Freiherr vom Stein hat später die Revolution von 1848 heftig verurteilt, und Gneisenau hatte recht rabiate Vorstellungen, wie man mit Demokraten umgehen müsse.

Das Mißverständnis, das Freiheit, Demokratie und allgemeine Wehrpflicht in den preußischen Reformen von 1807 - 1818 vermutet hat, hat das erwachende liberale Bürgertum, das erst im Kampf gegen Napoleon ab 1813 auch ein erkennbares Nationalbewußtsein entwickelt hat, sogar erst nachträglich produziert. Es waren seine Hoffnungen, die für Realitäten gehalten wurden. Es waren Versprechungen seitens der Krone, die nicht eingehalten wurden. Historische Realität ist etwas anderes: Die Reformer wollten die "Einheit von Volk, Staat und Armee", weil sie nur durch die Mobilisierung des ganzen Volkes Aussicht hatten, stark genug im Kampf gegen Napoleon zu werden. Dazu bedurfte es der Freiwilligkeit beim Bürgertum- die Masse der armen Leute wurde eh nur kommandiert wie seit alters her. Der Freiheitsbegriff, der dafür bemüht wurde, war zudem auf's engste mit dem kantischen Pflichtenethos verbunden. Dadurch sollte garantiert werden, daß die Freiheit nicht "mißbraucht" werden könnte und nur dazu genutzt würde, seine Bürgerpflichten dem Staat gegenüber aus freien Stücken zu erfüllen. Der Staat, in dieser Gedankenwelt dem gleichen Pflichtenethos unterworfen, hätte die Freiheit der Bürgerschützen müssen, sie auf jeden Fall akzeptieren können, weil er bei pflichtbewußten Staatsbürgern keinen Grund mehr zur Bevormundung hätte. In dieses allgemeine System sollte nun auch das Militär eingepaßt werden. Wenn der Staatsbürger als Soldat seine Pflicht tut, braucht das Militär nicht mehr die alten Strafsysteme und das alte rigorose Autoritätssystem, es muß seine Würde schützen und ihm eine ehrenhafte Existenz während der Militärdienstzeit garantieren.

Freiheit, Freiwilligkeit und Wehrpflicht wurde für den Bürger zum Privileg, das an seine finanzielle Potenz gebunden wurde. Wer sich selber ausrüsten und unterhalten konnte, dem wurde gestattet, im Krieg gegen Napoleon in den Freikorps zu dienen. Dort konnte er seine Vorgesetzten wählen, und die traditionelle militärische Disziplin war stark gelockert. Später, ab 1814, brauchte dieser wohlhabende Bürger nur noch ein Jahr Militärdienst zu leisten, während die Armen für zwei Jahre verpflichtet wurden.

Die freiheitliche Rhetorik, durch die Militärreform und die Improvisationen vor allem im Kriege 1813/14 mit mißverstehbaren Realien untermauert, und das Verfassungsversprechen des Preußischen Königs von 1813 nährten im Bürgertum die Hoffnung, daß wirklich politische Freiheit gemeint sei und die Wehrpflicht ihr Preis. Die Einrichtung der Landwehr 1814 mit ihren freiheitlichen Elementen, so vor allem der Offizierswahl, wurde damit zu einer symbolischen Institution des liberalen Bürgertums. Militärisch selbst nach Meinung vieler Reformer nur bedingt sinnvoll, wird sie vor allem vom preußischen Kriegsminister, dem Reformer von Boyens, so konzipiert, daß sie zum Symbol der Verbindung von Freiheit und Wehrpflicht wird. Das Bürgertum ideologisiert sie zunehmend, sie wird zum Ausgangspunkt der wehrpolitischen und verfassungspolitischen Debatten des 19. Jahrhunderts. Im gleichen Zuge wird sie wegen ihres politischen Charakters nach1818 in ihrem militärischen Wert ruiniert und zum Haßobjekt der Reaktion. Im Verfassungskonflikt 1861 um ihre Abschaffung siegt Bismarck dadurch, daß er das preußische Parlament auflöst und ohne Parlament und gegen die Verfassung regiert. An diesen Auseinandersetzungen um Landwehr, Miliz und Verfassungseid der Streitkräfte, dem zentralen verfassungspolitischen Machtkampf, den das Bürgertum und mit ihren Milizvorstellungen die Sozialdemokratie ebenfalls verloren haben, macht sich der historische Fehlschluß fest, das Wehrpflicht und Demokratie zusammen gehören.

Seit 1818 beginnt in Preußen die offene Politik der Reaktion. Die Armee ist und bleibt Königsheer. Der Monarch ist alleiniger Herr der Armee und sie wird mehr und mehr sein wichtigstes innenpolitisches Machtinstrument. 1848tritt diese Armee gegen die Revolution an, sie ist Bürgerkriegsarmee. 1849 schlägt sie die Revolution blutig nieder. Kronprinz Wilhelm, der nachmalige erste deutsche Kaiser, geht als Kartätschenprinz in die Geschichte ein. 1851 wird in Preußen das Gesetz über den Belagerungszustand erlassen, das bis 1918 gültig blieb und der Armee im Falle innenpolitischer Unruhen die alleinige vollziehende Gewalt übertrug. Später, in immer neuen Fassungen, deren letzte 1911 verhandelt wurde, wird die Armee nach der Vorschrift "Kampf in insurgierten Städten" ausgebildet. In dieser Aufgabe und dieser Ausbildung liegt eine der Ursachen für die hohen Anfangsverluste im Ersten Weltkrieg. All dies geschieht mit Wehrpflicht und Wehrpflichtigen.

Eine der Ursachen dafür, daß das möglich war, ist das brutale Disziplinierungssystem für den gemeinen Soldaten, das sich im 19. Jahrhundert gegen die Intuitionen der Reformer von 1808 herausgebildet hatte. Wie unmenschlich es tatsächlich war, kann man daran sehen, daß zwischen 1871 und 1914 ca. 40.000Soldaten so sehr daran verzweifelten, daß ihnen der Selbstmord das geringere Übel war. Eine andere Ursache ist das Rekrutierungssystem des Führungspersonals aus den Kreisen der Gesellschaft, von denen man Monarchismus, Antiparlamentarismus und Antisozialismus erwarten konnte. Aus gleichem Grund wurde die weitaus größte Zahl der Wehrpflichtigen aus der konservativen Bevölkerung der Kleinstädte und vom Lande gezogen. Das Offizierskorps, das mit dem Wettrüsten immer größer wurde, mußte ideologisch kontrolliert werden und seit 1896wird es auch offiziell - wenn man die ästhetischen Schnörkel der Formulierungen Wilhelm II. beiseite läßt - darauf verpflichtet, keinerlei Einfluß von Parlament und Politik zuzulassen, sondern ausschließlich dem autokratischen Monarchen zu gehorchen. Es wird auf einen handfesten Antisemitismus festgelegt und muß bereit sein, gegen die Sozialdemokratie Bürgerkrieg zu führen.

Die dritte Ursache, daß allgemeine Wehrpflicht und autoritäre Monarchie sich miteinander vertrugen, ja sogar bestens ergänzten, war der Nationalismus, der sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einer reaktionären, rechtsextremistischen Ideologie des Bürgertums und der alten Eliten gemausert hat und - für die breite Masse unkenntlich - mit dem demokratischen Nationalismus der ersten Jahrhunderthälfte und der Sozialdemokratie der zweiten Jahrhunderthälfte trotz aller prinzipieller Unterschiede zu einer Funktionseinheit verschmolz. Das ging folgendermaßen vor sich: Wehrpflicht und Nationalstaat als demokratischer und sozialer Rechtsstaat symbolisierten sich für die Sozialdemokratie im Milizsystem. Wehrpflicht und Nationalstaat galten auch für die politische Rechte und den rechten Extremismus der Kaiserzeit. Daß letztere das stehende Wehrpflichtheer hatten und kontrollierten, führte zwar zu heftiger Ablehnung der konkreten Armee seitens der Sozialdemokratie, nicht aber des Zusammenhangs von Wehrpflicht und Nationalstaat. So, weil die Arbeiterbewegung den Nationalstaat demokratisch definierte, wurde über die nie realisierte Vorstellung von der Miliz der Gedanke von Wehrpflicht und Demokratie am Leben gehalten - gegen alle historisch - politische Realität.

Daß die Weimarer Republik keine allgemeine Wehrpflicht kannte, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Dafür war sie die Republik der Privatarmeen und des Bürgerkrieges. Wer in dieser Zeit die allgemeine Wehrpflicht wieder haben wollte, so kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten, gehörte zum rechten Flügel des politischen Spektrums und dachte in Kategorien von Revanche, Wiederherstellung der Großmachtrolle Deutschlandsund an innergesellschaftliche Disziplinierung, insbesondere gegen Demokraten und Arbeiterschaft.

Daß Wehrpflicht und Demokratie in der Nazizeit nichts miteinander zu tun hatten, ist so offensichtlich, daß es keiner weiteren Erklärung bedarf. Hier wird Wehrpflicht sogar ins Kriegsverbrechen, in den Völker - und Gefangenenmord eingespannt. Und am Ende des Krieges wird mit Teilen dieser Armee das eigene Volk terrorisiert und der innermilitärische Terror explodiert ins Grenzenlose. Über 1 Million Kriegsgerichtsverfahren wurden angestrengt und mehr als 30.000 Todesurteile gegen Wehrmachtsangehörige werden von der Wehrmachtsjustiz verhängt. Nicht gezählt sind die tausende von Opfern der fliegenden Standgerichte der letzten Kriegsmonate.

All dies wird in der Wiederbewaffnungsdebatte von den Befürwortern der allgemeinen Wehrpflicht ignoriert und verdrängt, allenfalls als Fehlentwicklung interpretiert. Die einen knüpfen gutwillig und im produktiven Mißverständnis an die preußische Reformzeit 1808bis 1818 an und versuchen, eine demokratiekonforme Wehrpflichtarmee gegen die Bedrohung durch den "Totalitarismus" der Sowjetunion aufzubauen. Die anderen lassen sie reden, verstecken sich hinter diesen Vorstellungen, die für sie nur Fassade sind und knüpfen mit ihrem Antikommunismus am Antibolschewismus der NS-Zeit an. Ihnen ist allgemeine Wehrpflicht selbstverständlicher Bestandteil eines Rekrutierungssystems für Massenarmeen und die erzwungene Demokratisierung in der Bundeswehr ein Ärgernis. Sie sind auch nicht bereit, sich von der Tradition realen deutschen Militärs vor 1945 zu distanzieren.

So ist es auf den ersten Blick fast ein Wunder, daß sich allgemeine Wehrpflicht und Demokratie in der Bundeswehr doch noch als miteinander kompatibel erwiesen haben. Damit ist aber nur festgestellt, daß beides miteinander verknüpfbar ist, eine notwendigerweise systematische Entsprechung beider Elemente liegt nicht vor. Allgemeine Wehrpflicht ist politiksystematisch neutral. Sie ist wohl mit fast jedem politischen System zu verbinden, das sich Gehorsam erzwingen oder auf andere als demokratische Weise Massengefolgschaft verschaffen kann. Praktisch realisiert wurde sie sowieso nur im Kriege. Dort zeigte sie auch ihr ganzes Gesicht, nicht nur die Show Seite.

Wehrpflicht im industrialisierten Krieg

Wenn wir uns in dieser Hinsicht den ersten Weltkrieg anschauen, kommt eine völlig neue Dimension der Funktion der Wehrpflicht in den Blick. Es ist der erste industrialisierte Krieg in Europa. Es ist der erste Krieg, indem Millionenheere aufeinanderprallen und es ist der erste Krieg, in dem die ökonomischen Voraussetzungen der Kriegführung zum entscheidenden Faktor werden. Wehrpflichtige sind im Bewußtsein der Militärs das unbegrenzt verfügbare "Menschenmaterial". Die Vorstellung davon, was man mit diesem Menschenmaterial alles machen kann, ist schon vor dem Krieg außerhalb des Militärs vorhanden. Schon 1912gab es eine Publikation des Hamburger Lehrers Lamzus - überschrieben "Das Menschenschlachthaus" -, in dem der Krieg mit den Funktionen dieses Menschenschlachthauses nach industriellen Grundsätzen beschrieben wird. Auch der russisch polnische Adelige von Bloch hat in einer fünfbändigen Arbeit über den zukünftigen Krieg den Ersten Weltkrieg 20 Jahre, bevor er tatsächlich stattfindet, in allen Dimensionen beschrieben. Wir haben auch in der belletristischen Literatur Beschreibungen vom Menschenschlachthaus. G.H. Wells ist in seinem Roman "Die Zeitmaschine" mit Hilfe dieser Zeitmaschine in die Zukunft gefahren und fand dort Menschen, die in einem ganz primitiven Zustand lebten und nachts für die Fleischproduktion von irgendwelchen Unterwelttypen eingefangen werden.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg war also die Vorstellung vom Menschen als Schlachtvieh in den Köpfen. Das wird im Ersten Weltkrieg dann praktiziert. Denken Sie an Verdun. Das strategische Konzept von Falkenhayn in Verdun lautete, den Krieg so zu führen, daß über die "Blutpumpe", also die Produktion von Menschenverlusten, die französische Armee ausgeblutet würde. Über das Ausbluten (im wahrsten Sinne des Wortes) der Wehrpflichtigen, über das Menschenschlachthaus, wollte er den Schwächeren mit dem geringsten Menschennachschub zum Aufgeben zwingen. Diese "Blutpumpe" galt fatalerweise auch für die deutsche Wehrpflichtarmee des Ersten Weltkrieges entgegen der Hoffnung Falkenhayns.

Schon im Ersten Weltkrieg hatte sich gezeigt, daß die Wehrpflicht nur der Angelhaken ist, an dem alles weitere hängt. 1916 wurde als logische Konsequenz der Kriegswirklichkeit und der Wehrpflicht die allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Das Grundproblem war nicht mehr, wieviel Soldaten vorhanden waren, sondern wie durch eine optimale Verteilung leistungsfähiger Menschen die gesamte Leistungsfähigkeit des deutschen Reiches optimiert werden konnte, insbesondere die ökonomische Leistungsfähigkeit für die Kriegführung. Dieses System wurde im II. Weltkrieg perfektioniert. Weil man Angst davor hatte, daß sich die Revolution von 1918 wiederholen könnte, wird nicht mehr die eigene Bevölkerung ausgepumpt, sondern die Zwangsarbeit auch von Ausländern aus den besetzten Gebieten eingeführt. Insgesamt waren etwa 11 Millionen Zwangsarbeiter in Deutschland, über zwei Millionen sind dabei zu Tode gekommen. Was im Ersten Weltkrieg noch Augenblicksentscheidungen aus unvorhergesehenen Notlagen war, daß man mit der Wehrpflicht die Dienstpflicht begründete-- und als auch diese nicht mehr reichte, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken - zur Zwangsarbeit quasi als Dienstpflicht der Besiegten überging, wird im NS System schon 1935 als rechtssystematischer Zusammenhang für den bevorstehenden Krieg geplant. Über die Notwendigkeit der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen reflektiert General Beck schon im März 1934.

Allgemeine Wehrpflicht wurde so zum Legitimationsinstrument für die allgemeine Dienstpflicht und zur Zwangsarbeit.

Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland

Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Mitte der fünfziger Jahre hatte relativ wenigmit militärischem Bedarf für die Verteidigung der Bundesrepublik zu tun, auch wenn das immer gesagt wurde und heute noch behauptet wird. Die eigentliche Bedrohung, die Auslöser für die Wiederbewaffnung war, kam daher, daß sich der Korea Krieg als Modell für einen Krieg in Europa entwickeln würde. Als die Bundeswehr tatsächlich aufgebaut wurde, war das alles vorbei.

Die Bundeswehr hatte inzwischen eine hochpolitische Funktion bekommen. Sie war die Eintrittskarte in Nato und WEU und damit der Preis für die Rückgewinnung größerer Souveränitätsrechte. Mit einer kleinen Freiwilligenarmee wäre aber das deutsche Gewicht im Nato Bündnis allenfalls gering gewesen. Nur eine große, gut gerüstete Armee garantierte Einfluß und dazu brauchte man die Wehrpflicht, zumal die Bereitschaft, freiwillig Soldat zu werden, in den 50ern und frühen 60ern noch minimal war. Militärs konnten sich damals aber nur Wehrpflicht Massenarmeen vorstellen. Hier trafen sich also politische Interessen, vor allem die Adenauers wegen seiner Politik derWestintegration, mit traditionellen militärischen Vorstellungen vom Militär. Niemals im Laufe der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum Natobündnis gab es dagegen eine Verpflichtung seitens der Nato, eine vorgeschriebene Zahl deutscher Soldaten aufzustellen. Die Größe der Bundeswehr war immer eine autonome deutsche Entscheidung.

Traditionell militärisches Denken hat die Größe der Bundeswehr bestimmt und das hat eher mit kulturellen Traditionen zu tun als mit analytisch fundierten Bedarfsberechnungen. Theologen können dazu mehr sagen als Militärs. Es ist doch erstaunlich, daß immer eine bestimmte Zahlenkombination bei militärischen Verbänden auftaucht. Auch bei der Bundeswehr! Es gab 12 Divisionen, 36 Brigaden. Die 3 spielt eine ähnliche Rolle, oft die 6und die 4. Das ist ein System heiliger Zahlen, nach dem im 17. und 18. Jahrhundert Armeen konstruiert wurden. Dabei ist es bis in die Gegenwart geblieben, nicht nur in Deutschland. Nie hat es in der Europäischen Militärgeschichte z.B. 15, 23, 31 Divisionen als Organisationsziel gegeben. Immer waren es 6,12, 18, 24, 36. Diese kulturell verankerte Zahlenmystik hat mit moderner militärischer Rationalität nichts mehr zu tun, auch die Bundeswehr unterlag bei ihrer Gründung diesen Traditionen.

Nun gab es noch eine zweite Traditionslinie, sehr viel schwächer zwar als die beschriebene, die auch die allgemeine Wehrpflicht befürwortete: Die Reformer um Graf von Baudissin. Diese nahmen das liberal demokratische Mißverständnis der preußischen Reformen von 1808bis 1818 wieder auf. Sie wollten Volk, Armee und demokratischen Staat miteinander versöhnen und die unheilige deutsche Militärtradition brechen. Dies ist ihnen im Laufe der folgenden Jahrzehnte auch dadurch gelungen, daß sie den rechtsverbindlichen Rahmen der Bundeswehr verfassungs- und demokratiekonform durchsetzen konnten und damit der nachwachsenden, demokratisch erzogenen Generation die Spielräume verschaffte, auch in der Realität eine demokratiekonforme Armee zu entwickeln. Diese Kräfte in der Bundeswehr sind auch heute noch weitgehend Verfechter der allgemeinen Wehrpflicht und treffen sich - mit anderen politischen Zielen - mit denen, die die Wehrpflicht aus anderen Gründen beibehalten wollen.

Die aktuelle Auseinandersetzung um die Wehrpflicht

Die Bundeswehr und die deutsche Militär- und Sicherheitspolitk haben sich in den vergangenen Jahrzehnten selbst in eine argumentative Falle begeben: Die Bedrohung durch den Warschauer Pakt war ihre offizielle Raison dé Etre. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Etablierung von Demokratien nach westlichem Muster in der anderen Hälfte Europas brach die bisherige Begründung für die Wehrpflicht Massenarmee weg. Es ist verteidigungspolitisch nicht mehr begründbar, daß eine solche Massenarmee notwendig ist. Selbst der bisher stärkste militärische Gegner hat auf mindestens ein ganzes Jahrzehnt keine Chance, auch nur seine Armee wieder konkurrenzfähig, vielweniger strategisch einsatzfähig zu machen. Braucht man aber die Massenarmee nicht, ist auch die Wehrpflicht obsolet. Praktisch ist die Bundeswehr ja heute schon eine Freiwilligenarmee mit Soldaten im Wehrpflichtigenstatus; denn wer auf keinen Fall Soldaten werden will, kann über die Kriegsdienstverweigerung den Wehrdienst vermeiden.

Trotzdem wird offiziell an der Notwendigkeit der Wehrpflicht festgehalten. Die Befürworter aus politisch ideologischen Gründen kommen aus zwei unterschiedlichen Lagern. Da sind einmal die schon genannten Soldaten und politischen Anhänger einer demokratischen Kontrolle des Militärs über seine soziale Zusammensetzung. Es ist eine Tradition demokratischer Volksbewaffnung, die hier durchschimmert: Ein Militär des ganzen Volkes ist weder nach innen noch nach außen für Abenteuer einsetzbar, die Integration der Armee in den demokratischen Staat und in die Gesellschaft sei nur so zu garantieren. Die soziale Realität ist mittlerweile aber eine andere. Da die Kriegsdienstverweigerung im Prinzip eine Wahlfreiheit etabliert hat, gehen heute eher konservative junge Männer mit "rechten" politischen Vorstellungen zum Militär, und die eher "linken" gehen in die Verweigerung. Die Bundeswehr hat sich also auch bei den Wehrpflichtigen inzwischen nach "rechts" homogenisiert, der politische Pluralismus, den die Wehrpflicht hineintragen soll, ist trotz Wehrpflicht massiv zurückgegangen.

Die eher konservativen Befürworter der Wehrpflicht gehen vom Begriff der "Schule der Nation" aus, auch wenn sie es so nicht sagen.Sie erwarten von der Armee eine Erziehungsfunktion in Richtung Disziplin, Ordnung, Gehorsam, Dienstbereitschaft und traditioneller Männlichkeitsvorstellungen. Ob die Bundeswehr das bei faktisch weniger als 10 Monaten Grundwehrdienstzeit überhaupt leisten kann, ist mehr als fraglich. Auch hier bleiben die Zweifel.

Bleiben die mehr oder weniger unausgesprochenen Argumente. Da ist zunächst das politische Problem wie seit den Anfängen der Armee: Je kleiner die Armee, um so geringer der Einfluß im Bündnis. Man will aber eine europäische Großmacht sein, ist ja ökonomisch die stärkste Nation in der Region. Außerdem gibt es ökonomische Argumente: Kurz vor dem Zusammenbruch war ja erstmals ein international konkurrenzfähiger High-Tech-Rüstungskonzern zusammengebracht worden. Soll der nun mangels militärischer Nachfrage Pleite gehen? Dann hat die Bundeswehr ein massives Rekrutierungsproblem: Die Masse ihrer Zeitsoldaten entscheidet sich während der Wehrpflichtzeit zur Weiterverpflichtung. Ohne Wehrpflicht also keine oder viel zu wenig Zeitsoldaten! Unter den militärischen Führungskräften ist das fast das wichtigste unausgesprochene Argument.

Aber auch die deutsche Gesellschaft hat sich in den 80er Jahren spätestens in eine selbstgestellte Falle begeben. Ohne Wehrpflicht gibt es keinen Zivildienst und ohne diesen müßte ein großer Teil unseres Sozialsystems umgebaut werden. Viele soziale Dienstleister würden vor erhebliche finanzielle Probleme gestellt. Die Diskussion dazu ist seit einiger Zeit im vollen Gange. Gesamtgesellschaftlich gibt es eine Tendenz, wie fürs Wehrpflichtmodell den "Dienst an der Gemeinschaft" durch ein "Pflichtjahr" zu erzwingen und diesen Dienst als zwar zivile aber doch Erziehungsinstitution für Disziplin, Gehorsam und Pflichtbewußtsein zu etablieren. Da könnte man sogar die Mädchen mit einbeziehen und auch ihnen wieder Pflicht, Unterordnung und Dienstbereitschaft anerziehen und die emanzipatorischen Flausen austreiben, wieder "richtige Frauen" aus ihnen machen.

Kurz und gut: Was sich im Ersten Weltkrieg erstmals gezeigt hat, daß die allgemeine Wehrpflicht die Legitimationsbasis für andere Zwangsdienste wurde, hat sich über den Zweiten Weltkrieg bis in die Diskussionen der Gegenwart gehalten. Wehrpflicht ist nicht als solche interessant, sondern daß man sie umfunktionieren und ausbeuten kann für andere, oft militärfremde Zwecke.

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