Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Wehrpflicht
Götz Frank
Dr. Dr. h.c. Götz Frank ist Professor an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Vortrag auf der Fachtagung "Auslaufmodell Wehrpflichtarmee", die die Zentralstelle KDV und die Evangelische Akademie Thüringen am 1./2. November 1996 in Eisenach durchführte.
Die Wehrpflicht ist politisch ins Gerede gekommen. Kann man sie noch aufrechterhalten, wenn weniger als die Hälfte eines Jahrgangs wirklich "gezogen" wird? Ist sie als Pflichtdienst noch sinnvoll, nachdem der Ost West Konflikt mit seinen sich gegenüberstehenden Massenarmeen, insbesondere in den beiden deutschen Staaten, vorüber ist und das Militär ganz neuartige Aufgaben zugeschrieben bekommt, die eher im internationalen Bereich liegen als in der nationalen Verteidigungsaufgabe? Können wir so tun, als ob die politischen Reaktionen unserer europäischen Nachbarn auf die veränderte Situation, wie etwa die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich, mit der deutschen Situation in der weltpolitischen Lage nicht vergleichbar ist, für Deutschland also nach wie vor Landesverteidigung angesagt ist?
Solche politischen Fragen werden in zunehmender Heftigkeit geführt und der verfassungsrechtliche Rahmen der Wehrpflicht gerät in dieser Diskussion zwangsläufig mit in die Debatte. Er tut dies schon deswegen, weil die Republik unter dem Grundgesetz, gerade auch im verfassungsrechtlichen Bereich, zum Rechtswegestaat geworden ist und man selbstverständlich bereits darüber nachzudenken beginnt, ob dieser Streit nicht eines Tages auch einmal vor dem Bundesverfassungsgericht fortgesetzt werden könnte, dem die verfassungsrechtliche Kontrolle über die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht obliegt.
Es wäre sicherlich verfehlt, eine Prognose über den Ausgang eines solchen Verfahrens in Karlsruhe zu wagen, ganz gleichgültig, in welchem prozessualen Rahmen er ausgetragen würde. Zum einen ist eine vergleichbare Frage bislang nicht dorthin getragen worden. Zum anderen spielt gerade hier wieder einmal der zu beachtende Grenzbereich zwischen Politik und Verfassungsrecht eine Rolle, in dem sehr leicht politische Wunschvorstellungen in verfassungsrechtliche Verbindlichkeitsaussagen umschlagen können und bei denen sich das Karlsruher Gericht auch schon des öfteren die Finger verbrannt und sich den Vorwurf vom Ersatzgesetzgeber eingehandelt hat.1)
Beim Abstecken des verfassungsrechtlichen Rahmens erscheint deswegen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Aussagekraft der Verfassung angebracht und, entsprechend der Karlsruher Praxis, eine prinzipielle Bereitschaft, dem Gesetzgeber einen breiten politischen Gestaltungsspielraum zuzuerkennen. Schließlich kann der Bürger, wenn er mit dessen Entscheidungen nicht einverstanden ist, für eine Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse sorgen.
Einzigartigkeit der Wehrpflicht
Meine erste Anmerkung gilt der Einzigartigkeit der Wehrpflicht als letzte verbliebener Grundpflicht in der Verfassung:
Das Grundgesetz hat sich deutlich vom System der Grundpflichten abgewandt, wie wir es noch in der Zeit der Weimarer Reichsverfassung kannten. Hieß da noch der gesamte zweite Hauptteil Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, so bleibt heute die Wehrpflicht als eine gegenüber der staatlichen Gemeinschaft abzuleistende Jedermannspflicht im Grundgesetz die Ausnahme.
Zweifellos würde eine Ausdehnung solcher Pflichten, etwa im Sinne der seit einiger Zeit diskutierten allgemeinen Dienstpflicht von Männern und Frauen, eine Verfassungsänderung voraussetzen, die übrigens eine eher bedenklich stimmende Tradition in der deutschen Rechtsgeschichte aufzuweisen hätte: Man denke nur an den Reichsarbeitsdienst innationalsozialistischen Zeiten oder an die Arbeitspflicht als Pendant zu den Rechten der Staatsbürger in der Verfassungsgeschichte der DDR.2)
Die Entstehungsgeschichte des Art. 12 Abs.2 GG ist als eine bewußte Abkehr von der nationalsozialistischen Indienstnahme der Arbeitskraft des einzelnen für den Staat zu verstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies immer wieder betont und zugleich darauf hingewiesen, daß das westliche Freiheitsverständnis auch gegenüber Zwangsmaßnahmen im Bereich der Arbeit unterstrichen werden sollte, wie sie damals im kommunistischen Herrschaftsbereich an der Tagesordnung waren.3)
Im Parlamentarischen Rat fungierte, wie schon in der vorangegangenen Debatte in Herrenchiemsee, die Konzeption des Art. 12Abs. 2 GG im Sinne einer Antwort des demokratischen Neubeginns. Die einzige verfassungsrechtliche Ausnahme von diesem Artikel12 Abs. 2 GG, nach dem niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden darf, ist die Möglichkeit, nach Art. 12 a GG Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr zum Dienst in den Streitkräften zu verpflichten. Die verfassungsrechtliche Grundpflicht ist heute eine absolute Ausnahmeerscheinung und muß auch als solche behandelt werden. Hierin kommt eine Abkehr vom früheren Verfassungsdenken zum Ausdruck, die kürzlich zu Recht als "kopernikanische Wende" bezeichnet wurde.4)
Diese Sicht ist nachdrücklich in dem Sinne zu unterstreichen, daß insbesondere die im Grundgesetz erstmals aufgenommene Bestimmung über die Menschenwürde am Anfang unserer Verfassung zum Ausdruck bringt, daß der Mensch niemals mehr um des Staates willendazusein hat, sondern umgekehrt, sich die gesamte staatliche Ordnung daran zu orientieren hat, daß der Mensch im Mittelpunkt steht, seine Würde oberstes Konstitutionsprinzip ist.5) In dieser verfassungsgeschichtlichen Entwicklung wird der Grundfür den Ausnahmecharakter deutlich, den die Wehrpflicht im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes einnimmt. Sie ist keinesfalls Selbstzweck, sondern stellt einen gravierenden Eingriff in die Freiheitssphäre des Bürgers dar, der an der Erforderlichkeit für die Zwecke, der sie dienen soll, zu messen ist. Nicht die Freiheitssphäre des Bürgers ist also die disponible Masse, sondern umgekehrt, die Dringlichkeit der sie begrenzenden Staatszwecke muß sich an ihr messen lassen.
Wehrpflicht und Demokratie
Als zweite entstehungsgeschichtliche Anmerkung zur Wehrpflicht ist dem aus der staatsrechtlichen Diskussion begründeten Irrglauben entgegenzutreten, es gebe einen besonderen Zusammenhang zwischen Demokratie und allgemeiner Wehrpflicht.6) Die Wehrpflicht ist während der französischen Revolution als Notwehrmaßnahme in einer Zeit entstanden, in der die ursprünglichen Freiwilligenverbände durch mehrere Niederlagen Frankreich an den Rand des Abgrunds brachten. In dieser Zeit setzte Carnot im Gegensatz zu den ursprünglichen Ideen der Revolution die allgemeine Wehrpflicht durch.7)
Preußen hat dieses System perfektioniert und auf Dauer praktiziert. War die Wehrpflicht 1814 noch durch das Sicherheitsbedürfnis in den Befreiungskriegen begründbar, so diente sie spätestens von 1815 ändem Auf- und Ausbau der preußischen Vormachtstellung durch militärisches Übergewicht. Gleichwohl wird niemand in Abredestellen, daß bis 1918 die Armee von Preußendeutschland Königsarmee geblieben ist.8) Die Wehrpflicht in dieser Armee diente gerade den der Demokratie entgegengesetzten Zielen. Ein preußischer Offizier der Vormärzzeit hat dies einmal treffend formuliert, als er sagte, daß die anerzogene Liebe zu König und Vaterland, im täglichen Dienst durch den Unteroffizier vermittelt, eine Grundlage bildet, die "vor jeder Verwirrung schützt, wie auch immer die Torheiten der Zeit, die wahren Begriffe von Freiheit und Gleichheit, kurz, das ganze wilde Heer des politischen Fanatismus jenseits unserer Grenzen locken und aufreizen mögen".9)
Und das in Feiertagsreden nach wie vor verbreitete Gerede von der Wehrpflicht als Ausdruck der demokratischen Errungenschaft,der "levée en masse", ist deswegen verfassungsrechtlich verfänglich, weil daraus ein Zusammenhang hergestellt werden könnte zwischen der grundgesetzlichen Staatszielbestimmung des Demokratieprinzips in Art. 20Abs. 1 GG und der allgemeinen Wehrpflicht. Jeder in diese Richtung gehende Versuch ist mit Entschiedenheit zurückzuweisen. In der französischen Revolution hatte die Wehrpflicht einen funktionalen Stellenwert und stand dem bürgerlich aufklärerischen Geist, der Freiheit und Würde des Individuums in den Mittelpunkt stellte, entgegen. In der Anfangsphase der französischen Revolution lehnte die Bourgeoisie deswegen mit dem Dekret vom 16. Dezember 1789 den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht auch ganz entschieden ab.10)
So ist die Einführung der Wehrpflicht im18. Jahrhundert nicht mehr und nicht weniger als der Beginn des Zeitalters der Massenkriege.11) Sie ließ sich für unterschiedlichste Zwecke, von der Verteidigung der französischen Revolution über den preußischen Militarismus bis zum Massenheer des Hitlerregimes hin, instrumentalisieren und hat demnach nichts Spezifisches mit Demokratie zu tun, wenngleich auch die westlichen Demokratien im Zeitalter des Gleichgewichts des Schreckens im Ost West Spannungsfeld, ebenso wie ihre staatssozialistischen Widersacher, auf dieses Instrument gesetzt haben.
Abschließend zu diesem Thema läßt sich auch noch anmerken, daß selbst die personelle Fluktuation in den Streitkräften, sicherlich eine Voraussetzung für das Fortbestehen der Idee vom Staatsbürger in Uniform, als Instrument gegen eine Staat im Staat Bildung in einer Freiwilligenarmee fortbestehen könnte, würde man sie zum Teil aus kurzzeitig, etwa zwei bis acht Jahre dienenden Soldaten und zum anderen Teil aus längerdienenden Berufssoldaten rekrutieren.12)
Verfassungsrechtliches Gebot?
Meine dritte Anmerkung gilt der These von der Wehrpflicht als Verfassungsgebot:
Der angesprochene Ausnahmecharakter der Wehrpflicht in der Verfassung spricht gegendie noch vor wenigen Jahren vertretene Auffassung, die Wehrpflicht sei eine verfassungsrechtlich gebotene Pflicht, über die der einfache Gesetzgeber gar nicht verfügen dürfe.13) Dagegen spricht übrigens auch die terminologische Fassung des Art.12 a GG, die klar erkennbar eine Kannbestimmung enthält. Und auch Art. 87 a Abs. 1 GG bringt mit der Formulierung "der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf" damit keinen Imperativ zum Ausdruck.14) Die Wehrpflicht auch noch dann aufrechtzuerhalten, wenn über andere Mittel der Friedenserhaltung nach zudenken ist, weil die Zeiten sich geändert haben, geht im übrigen an der friedenspolitischen Aufgabenstellung der Verfassung vorbei und ist deswegen verfassungsrechtlich nicht haltbar.15) Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat denn auch in seiner Entscheidung vom 13. April 1978 die klare Aussage getroffen, daß die "von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, aber sofern ihre Funktionstüchtigkeit gewährleistet bleibt verfassungsrechtlich unbedenklich beispielsweise auch durch eine Freiwilligenarmee sichergestellt werden" kann.16)
Zum Einsatz Wehrpflichtiger "out of area"
Nun zur Diskussion um den Einsatz Wehrpflichtiger für Aufgaben im Bereiche der kollektiven Sicherheit:
Die Wehrpflicht ist auf Verteidigungsaufgaben beschränkt. Die in der juristischen Fachliteratur lebhaft umstrittene Frage, ob Wehrpflichtige überhaupt bei Aufgaben im Rahmen der kollektiven Sicherheit nach Art.24 Abs. 2 GG eingesetzt werden dürfen17), berücksichtigt schon rein faktisch nicht, daß Wehrpflichtige aus ganz pragmatischen Gründen wegen ihrer zu kurzen Ausbildungszeiten nicht für solche Spezialaufgaben herangezogen werden können. Aber auch die Verfassung erteilt solchen Vorstellungen eine klare Absage. Art. 12 a GG knüpft, wie insbesondere die Formulierungin Abs. 3 deutlich macht, ausdrücklich an den Verteidigungsbegriff des Art. 87 a GG an und bezieht sich erkennbar nicht auf die Aufgaben im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme. Insofern spricht schon sprachlich und systematisch einiges dafür, daß der Verfassungsgeber die Wehrpflicht ausschließlich auf Verteidigungsaufgaben beschränken wollte.18)
Man kann dies auch vom Begriff der Wehrpflicht her belegen, der in der Terminologie des "Wehrens" als solches auf die Verteidigungsfunktion verweist, zu der die Verfassung in Art. 87 a GG und Art. 115 a GG Aussagen enthält.19) Dabei läßt sich der Begriff der Verteidigung nicht im Sinne einer erweiterten Landesverteidigung auch auf die Verteidigung des Territoriums eines verbündeten Staates hin ausdehnen.20)Der Begriff der Verteidigung ist mit militärischer Landesverteidigung gleichzusetzen. Die Definition des Verteidigungsfalles in Art. 115 a GG setzt voraus, "daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht".
Seit seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 erkennt das Bundesverfassungsgericht den Wandlungsprozeß der Aufgaben der Streitkräfte zu Aufgaben im Bereiche der kollektiven Sicherheit hin als im Rahmen der Verfassung stehend an. Eine entscheidende Klippe war bei dieser Entscheidung der Art. 87 a Abs.2 GG, nach dem Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich zuläßt. Das Bundesverfassungsgericht erkennt nunmehr Art. 24 Abs. 2 GG, nach dem der Bund sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen kann, als eigenständige verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte an. Im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit läßt die Verfassung also auch die "typischerweise mit diesem System verbundenen Aufgaben und damit auch die Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden", zu.21) Dabei sieht das Gericht auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung, wie die NATO, als vom verfassungsrechtlichen Begriff des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt an.22)
An dieser Rechtsprechung geht die Argumentation, die Out of Area Einsätze von Wehrpflichtigen durch den Verteidigungsbegriff gedeckt sieht23), klar erkennbar vorbei. Das Bundesverfassungsgericht hat hier eben gerade nicht an den Verteidigungsbegriff des Art. 87 a GG angeknüpft und den nur ein bißchen gedehnt, wie Vertreter dieser Auffassung es vorschlagen. Es hat in Art. 24 Abs. 2 GG auf eine alternative Grundlage der Verfassung zurückgegriffen, was Art. 87 a in Abs. 2 GG ja auch zuläßt, wenn er sagt, daß die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit dies das Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.
Letztlich spricht für die Begrenzung auf die Verteidigungsaufgaben bei der Wehrpflicht aber auch und vor allem der Ausnahmecharakter des Wehrpflichtartikels. Hierfür läßt sich ein besonders prominenter Fachkollege des Staatsrechts mit seinen, wie ich meine, gelungenen Formulierungen heranziehen. Bundespräsident Herzog, vormals Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Kommentator der Wehrartikel im Grundgesetzkommentar von Maunz Dürig, hat vor kurzem einmal ausgeführt:
"Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, daß sie der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet ... Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können ... Es ist vor allem die Landes und Bündnisverteidigung und nicht die Beteiligung an internationalen Missionen, die Umfang und Struktur der Bundeswehr und die Beibehaltung der Wehrpflicht rechtfertigen."24)
Als gravierendster staatlicher Eingriff in die Freiheitsrechte des Bürgers muß sich die Wehrpflicht am erforderlichen Minimum orientieren, so daß die interpretative Berücksichtigung darüber hinausgehender Aufgaben auch am verfassungsimmanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheitern muß. Welches ist aber nun der eigentliche verfassungsrechtliche Rahmen, innerhalb dessen der Gesetzgeber frei über Beibehaltung oder Aufgabe der Wehrpflicht entscheiden kann? Oder anders ausgedrückt: Gibt es verfassungsrechtliche Grenzwerte, die der Gesetzgeber bei Aufrechterhaltung der Wehrpflicht überschreiten könnte?
Verfassungsrechtliche Grenzwerte
Die Frage, wann der verfassungsrechtliche Rahmen durch Aufrechterhaltung der Wehrpflicht überschritten wird, hat etwas mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu tun, der hier allerdings in abgeminderter Formauftritt.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Sinne einer materiellen Evidenzkontrolle die Frage, ob und in welchem Umfang Streitkräfte eingerichtet werden, als "nach weitgehend politischen Erwägungen in eigener Verantwortung zu entscheiden"25) eingestuft. Das ist sicherlich ein Maßstab, der weniger dicht ist als die strenge Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.26)
Die materielle Evidenzkontrolle kann aber auch zugunsten von Bestimmungen ausschlagen, mit denen die Wehrpflicht des Art. 12a GG in einer verfassungsrechtlichen Spannungslage steht. Gibt es erkennbar keine vernünftigen Gründe mehr, solche Verfassungswerte zugunsten der Wehrpflicht zurücktreten zu lassen, so muß ihnen gegenüber die Wehrpflicht selbst als nachrangiges Ziel in den Hintergrund treten. Um sich diese Eckpunkte des Rahmens einmal zu verdeutlichen, muß man die Verfassungsbestimmungen, die zur Wehrpflicht in einem Spannungsverhältnis stehen oder zumindest stehen können, näher betrachten:
Da spielt zum einen der Friedensauftrag des Art. 26 GG eine Rolle. Die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht in Zeiten, in denen keine typischen Aufgaben einer Wehrpflichtigenarmee mehr übriggeblieben sind, könnte eine nicht mehr akzeptable Militarisierung und auch das falsche Signal gegenüber den benachbarten Staaten bedeuten. Ernst Otto Czempiel hat kürzlich in einem FAZ Artikel zu Recht darauf hingewiesen, daß ein Übermaß bei der Herstellung von Verteidigungsfähigkeit jenseits der politischen Grenzen als die Herstellung von Angriffsfähigkeit mißdeutet werden kann. Sie könnte mit entsprechenden Gegenmaßnahmen beantwortet werden und damit genau die Sicherheit, die sie erzeugen möchte, gefährden.27) Es kommt deshalb bei Beachtung des Friedensauftrages der Verfassung darauf an, ob die Wehrpflichtigenarmee zur Verfolgung von Verteidigungszielen wirklich noch erforderlich erscheint oder ob sie das Friedensziel nicht, genau umgekehrt, in weitere Ferne rückt.
Da ist zum anderen die durch die Berufsfreiheit des Art. 12 GG geschützte Individualsphäre zu sehen, die zwar prinzipiell hinter Art. 12 a GG zurückzutreten hat, aber bei evidenten Verstößen gegen Sachgerechtigkeit auch als vorrangig angesehen werden kann.
Immerhin ist die Dienstzeit mit einem Einkommensausfall verbunden, der durch den Wehrsold nur unzureichend kompensiert wird, Lebens- und Berufsplanungsrisiken sind mit ihm verbunden und insgesamt entstehen daraus individuelle Kosten, die durchaus das Ausmaß üblicher steuerlicher Belastungen deutlich überschreiten.28) Wehrökonomische Analysen sprechen inzwischen von einer Naturalsteuer, die die Wehrpflichtigen erbringen, die aber nie zu Haushaltszwecken als Einnahme oder Ausgabe erfaßt werde. Veranschlagt wird die gesamte Steuersumme für Zwangsrekrutierungen auf 2 Milliarden Dollar pro Jahr, verteilt auf jeden einzelnen Soldaten 3600 Dollar pro Mann. Dabei wird als Höhe der Steuer die Differenz zwischen der Bezahlung, die der Rekrut oder Widerstrebende freiwillig tatsächlich erhält und der Bezahlung zugrundegelegt, die erforderlich wäre, ihn dazu zu bewegen, sich anwerben zu lassen.29)
Wenn aber das Aufrechterhalten solcher Belastungen zum Erreichen der aktuell notwendigen Friedens und Sicherheitsziele klar erkennbar, also evident nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil eine Freiwilligenarmee die gegenwärtigen Aufgaben genauso gut oder besser erfüllen könnte, erhalten auch diese Überlegungen verfassungsrechtliche Bedeutung. Auch hier steht also die Erforderlichkeit der Wehrpflichtigenarmee im Mittelpunkt.
Evident könnte insbesondere der eingetretene Aufgabenwandel sein, der das Massenaufgebot einer Wehrpflichtigenarmee nicht mehr erforderlich erscheinen läßt. Dominierend für die ehemalige Aufgabenstellung war die Gewährleistung einer wirksamen Abschreckung, die den Ausbruch kriegerischer Auseinandersetzungen wirksam verhindern sollte. Dafür waren militärische Drohpotentiale bereitzustellen, die dem möglichen Gegner das Risiko eines Angriffs höher erscheinen lassen sollten als den erzielbaren politischen Gewinn. Der Umfang des eigenen Drohpotentials bestimmte sich demgemäß aus der angenommenen Bedrohung durch den potentiellen Gegner. Da Bedrohtheitsvorstellungen aber einen unstabilen Faktor bilden, in sie Unsicherheiten der Wahrnehmung des gegnerischen Militärpotentials zwangsläufig einfließen muß ten, war das militärische Drohpotential zu gleich wechselseitig von spiegelbildlichen Feindbildern beeinflußt, die dazu führten, daß man gegenseitig über das objektiv notwendige Maß an militärischer Sicherheit aus subjektiven Gründen hinausging und so die bekannte Rüstungsspirale schuf.30) Für den Umfang der zu leistenden Wehrpflicht hatte dies Folgen. Ein an Bedrohtheitsvorstellungen ausgerichtetes System tendiert im personellen Bereich naturgemäß zum Massenaufgebot.
Nach 1989 heißt es hierzu in der offiziellen Militärdoktrin der Bundesrepublik nachdem Weißbuch 1994:
"Heute steht Europa am Beginn einer neuen Epoche. Die ehemals etwa 340.000 sowjetischen Soldaten in Deutschland werden im August 1994 in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Darüber hinaus wurden die Streitkräftepotentiale in Europa deutlich reduziert. Die jahrzehntelange Angst vor einer großen nuklearen Auseinandersetzung gehört der Vergangenheit an. Ebenso die Bedrohung, auf die sich der Auftrag der Bundeswehr bisher bezog: die Abwehr einer groß angelegten Aggression zahlenmäßig überlegener konventioneller Streitkräfte in Mitteleuropa nach einer relativ kurzen Warn und Vorbereitungszeit."31)
Das zuerst beschriebene Aufgabenfeld der Bundeswehr gehört also unstreitig der Vergangenheit an. Statt dessen verlagert sich der Aufgabenkreis der Streitkräfte mehr und mehr in den Bereich der kollektiven Sicherheit oder kollektiven Verteidigung.
Verteidigungsminister Rühe stellte vor wenigen Jahren einmal treffend fest, Deutschland sei das Land mit den meisten Grenzen in Europa, als Konsequenz des weltpolitischen Umbruchs habe es aber keinen einzigen Nachbarn mehr, den es nicht als Verbündeten oder Freund bezeichnen könne. Deutschland sei demnach nicht mehr Frontstaat.32)
Der Jugoslawienkonflikt und die Beteiligung von Angehörigen der Bundeswehr im Rahmendes NATO Einsatzes im September 1995 ist ein Beispiel für die eingetretene Aufgabenverlagerung. Ähnliches gilt für den Blauhelm Einsatz in Somalia, in dem Angehörige der Bundeswehr im Rahmen einer Peacekeeping Operation im Auftrag der UNO tätig wurden. Hier wird der Wandel des gesellschaftlichen Sicherheitsbegriffs exemplarisch deutlich. Das Verhältnis der eigenen Gesellschaft zu anderen Gesellschaften entwickelt sich im Sinne einer Risikogemeinschaft.33)
Das Weißbuch nimmt diesen Aufgabenwandel ebenfalls auf und beschreibt ihn mit folgenden Worten:
"An die Stelle des Risikos eines großen Krieges in Europa sind eine Vielzahl von Risikofaktoren anderer Art getreten, die sich regional sehr unterschiedlich ausprägen. Insgesamt wächst die Zahl instabiler Regionen in Europa, Asien und Afrika. Die Bereitschaft, militärische Mittel einzusetzen, nimmt vielerorts zu."34)
Wertet man diese Erkenntnisse unter der verfassungsrechtlichen Fragestellung, ob materielle Evidenzkriterien erkennbar seien, nach der die Erforderlichkeit für das Aufrechterhalten der allgemeinen Wehrpflicht inzwischen nicht mehr gegeben sei, so weisen sie recht klar in die Richtung, daß die Wehrpflicht auf Dauer verfassungsrechtlich nicht mehr zu halten sein wird. Internationale Aufgaben, wie die beschriebenen, sind keine Aufgaben der Wehrpflichtigenarmee, Verteidigungsaufgaben sind aber grundlegend zurückgetreten.
Wann genau der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Aufrechterhaltung der Wehrpflicht überschritten wird, ist sicherlich schwer exakt zu sagen. Immerhin hat die unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr bereits in ihrem Bericht von 1991darauf hingewiesen, daß die Landesverteidigung nur mittelfristig mit Streitkräften auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zu bestreiten sei. Nachdem sich in den letzten fünf Jahren geostrategisch die Situation nochmals erheblich verändert hat es ist heute noch viel weniger als damals vorstellbar, daß Rußland seine Streitkräfte im Angriff gegen Deutschland richtet stellt sich die Frage, ob diese mittelfristige Perspektive nicht inzwischen ihren Abschluß gefunden hat.
Insbesondere hat aber die Kommission auch klar gesagt, daß ein Grundwehrdienst unter12 Monaten die Verwendung in einem Einsatzverband praktisch ausschließe.35) Wenn die Grundwehrdienstdauer inzwischen auf 10 Monate abgerutscht ist, muß man danach seine Zweifel daran haben, ob er wirklich noch den von der Verfassung geforderten verteidigungspolitischen Dienstzielen dient, also erforderlich ist, oder nicht inzwischen ganz andere Funktionen bekommen hat, die aber erst einmal verfassungsrechtlich begründet werden müßten. Wehrpflicht mit dem Argument aufrechtzuerhalten, die Deutschen müßten lernen, daß man Streitkräfte auch als Vorsorge braucht, wie dies der Verteidigungsminister einmal kürzlich in einem "Spiegel Interview" getan hat, ist jedenfalls kein hinreichendes Argument, um einen so weittragenden Eingriff in die Freiheitssphäre der betroffenen jungen Leute zu rechtfertigen.36)
Das Friedensgutachten der Friedensforschungsinstitute von diesem Jahr führt zu Bedrohungen, die noch von Moskau gegenüber den Deutschland vorgelagerten ostmitteleuropäischen Staaten ausgehen können, aus:
"Tatsächlich sind weder Handlungen noch Erklärungen Moskaus erkennbar, die auf eine absichtsvolle Beeinträchtigung der äußeren Sicherheit der ostmitteleuropäischen Staaten schließen lassen könnten. Es ist statt dessen offenbar ein eher unterschwelliges und diffuses Risikokalkül (im Hinblick auf die geplante Aufnahme in die NATO, d.Verf.), das die Regierungen dieser Staaten zur Eile treibt und das sich im wesentlichen auf die Sorge vor einem Aufschwung revanchistischer Bestrebungen nationalistischer Kräfte in Rußland reduzieren läßt."37)
In diese Richtung weisen auch schon die vier Jahre vorher ausgegebenen verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung. In ihnen heißt es:
"Der unwahrscheinliche Fall eines Rückfalls in eine auf Konfrontation gerichtete Politik würde den völligen Rückzug aus dem irreversiblen, politisch rechtlich ökonomischen System Europa voraussetzen, auf dessen Leistungskraft aber gerade Rußland auf lange Sicht angewiesen bleibt. Der mit einem groß angelegten militärischen Wiederaufbau verbundene Zeitaufwand von mehreren Jahren würde der Allianz erlauben, ihre hohe wirtschaftliche Überlegenheit voll auszuspielen. Für eine groß angelegte Aggression gegen die NATO fehlen damit für den überschaubaren Zeitraum das rational und das erforderliche politisch ökonomisch militärische Gesamtpotential.38)
Wehrgerechtigkeit
Ebenso, wie sich die Anzeichen für eine verfassungsrechtlich zu beachtende Evidenz verdichten, daß die notwendige Erforderlichkeit für die Wehrpflicht aus den Verteidigungsaufgaben nicht mehr zu rechtfertigen ist, gilt dies auch für die drohende Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes beim weiteren Aufrechterhalten der Wehrpflicht. Entscheidender Gesichtspunkt ist hier der der Wehrgerechtigkeit, der durch die Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG, den Gleichheitsgrundsatz, bestimmt ist.
Wehrgerechtigkeit ist bei der gesetzlichen Umsetzung des Art. 12 a GG im Wehrpflichtgesetz im einzelnen als Differenzierungskriterium unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu beachten. Differenzierungen bedürfen hier deshalb für ihre Rechtfertigung immer einer sachlichen Grundlage.39) Wehrgerechtigkeit ist im Sinne der angesprochenen materiellen Evidenz, aber auch bei der Frage von Bedeutung, ob überhaupt noch die Wehrpflicht aufrechterhalten bleiben kann. Auch hier ist eine Situation denkbar, in der sich die Ungleichbehandlung von Wehrpflichtigen und nicht herangezogenen Bürgern eines Jahrgangs als so gravierend herausstellt, daß die Durchführung der verfassungsrechtlich möglichen Wehrpflicht als solches verfassungsrechtlich fragwürdig erscheinen könnte.
Die Schere zwischen der sich wandelnden Aufgabenstellung der Streitkräfte und den Funktionen, die eine Wehrpflichtigenarmee bieten kann, weitet sich zusehends. 1975 standen in der alten Bundesrepublik 257.000 Männer eines Jahrgangs zur Verfügung. 1994 waren dies, einschließlich der neuen Bundesländer, 361.000 Männer und im Jahre 2007soll diese Anzahl auf 419.000 steigen.40) Der Friedensumfang der Streitkräfte von 370.000 Mann, der einmal in Folge der 2+4 Gespräche als Obergrenze vereinbart wurde, wird bereits erheblich unterschritten; dieser Trend wird sich mit dem voraussichtlich weiter voranschreitenden Aufgabenwandel fortsetzen. Über eine weitere Verringerung der Dienstzeit ist diese Entwicklung nicht mehr aufzufangen; eine Unterschreitung der Ausbildungszeit von 10 Monaten würde nicht mehr der notwendigen Vorbereitung von Verteidigungsaufgaben gerecht. Deswegen mehren sich die Anzeichen für eine Zunahme der Wehrungerechtigkeit; der Tag scheint auch hier nicht mehr fern zu sein, an dem die materielle Evidenz im verfassungsrechtlichen Sinne überschritten ist.
Die unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr berichtete 1991noch, daß nach langjährigen Erfahrungen aus einem zur Musterung heranstehenden Geburtsjahrgang etwa 50 Prozent Wehrdienst im Grundwehrdienst leisten. Fünf Jahre später sind es nur noch 40 Prozent, so daß in der politischen Diskussion die nicht unberechtigte These vertreten wird, mit 60 Prozent Berufssoldaten oder Freiwilligen aus einem Geburtsjahrgang sei der Weg zur Berufs- und Freiwilligenarmee deutlich vorgezeichnet.40)
Die beschriebene zunehmende Jahrgangsstärke in den nächsten Jahren wird diesen Trend verstärken. Wehrgerechtigkeit wird dann immer stärker von der seit Jahren erkennbaren Zunahme von Zivildienstleistenden getragen werden, ein verfassungsrechtlich bedenklicher Zustand, da der Zivildienst gegenüber dem Wehrdienst nur substitutiven Charakter hat. Die Wehrpflicht um seiner willen aufrechtzuerhalten, um zusammen mit ihm den letzten Anschein von "Wehr und Dienstgerechtigkeit"42) zu erwecken, ist verfassungsrechtlich kein gangbarer Weg. Hier würde das Indiz für Wehrungerechtigkeit nur verstärkt. Ein Mainzer Minister hat die Situation einmal wie folgt treffend formuliert:
"Spätestens bei der nächsten Reduzierung der Truppenstärke der Bundeswehr ist eine Reform des Wehrdienstes unumgänglich. Wenn nur noch eine Minderheit eines Jahrgangs damit rechnen muß, zum Dienst mit der Waffe herangezogen zu werden, wird Wehrungerechtigkeit zur Regel."43)
Die Wiederherstellung der Wehr bzw. Dienstgerechtigkeit durch Heranziehung zu einem allgemeinen Gesellschaftsdienst schließlich, die als "Königsweg" diskutiert wird44), ist ohne Verfassungsänderung nicht möglich. Art 12 Abs. 2 GG enthält mit der Formulierung "Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden" ein Grundrecht auf Freiheit von Arbeitszwang.45) Verboten ist danach jede mit Zwangsmitteln durchsetzbare hoheitliche Heranziehung zu einer bestimmten Arbeit.46) Der Begriff "Arbeit" wird nicht akzeptiert, wenn der Bürger seiner Meldepflicht nachkommt, der Kaufmann seiner Buchführungspflicht genügt, der Eigentümerseine Verkehrssicherungspflicht erfüllt oder aber, wenn es sich um Pflichten handelt, die dem einzelnen um seiner selbst willen auferlegt werden, wie die gesetzliche Gesundheitskontrolle, die Schul- oder Ausbildungspflicht.47) Kurzum, wenn es sich um höchstpersönliche Pflichten, Nebenpflichten, die aus einer anderen Rechtsposition abgeleitet werden, oder aber Pflichten handelt, die, wie die Schulpflicht, als Teil "kompensatorischer staatlicher Fürsorge"48) gelten kann, ist nicht von Arbeit im Sinne des Grundgesetzes zu sprechen. Um Arbeit handelt es sich aber zweifellos bei einem solchen Gesellschaftsdienst. Ihn verbietet unsere Verfassung in ihrer heutigen Form.
Fazit
Im Ergebnis muß ich deshalb, trotz aller Vorsicht, die bei solchen Aussagen geboten erscheint, erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Aufrechterhalten der Wehrpflicht anmelden. Ausgangspunkt meiner Überlegungen hierzu war die These vom Ausnahmecharakter der Wehrpflicht als einziger Grundpflicht in unserer Verfassung. Die Entscheidung des Verfassungsgebers gegen Grundpflichten im übrigen hat zur Folge, daß die Wehrpflicht auch in ihrer gesetzgeberischen Handhabe wirklich auf das Erforderliche beschränkt bleiben muß Wehrpflicht steht in keinem besonderen Zusammenhang zur Demokratie oder dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip; sie ist, geschichtlich nachweisbar, gerade in Deutschland für gegenteilige Ziele genutzt worden. Nach der Konzeption der Bestimmungen des Grundgesetzes bleibt sie funktional auf Verteidigungsaufgaben begrenzt. Das Ziel der kollektiven Sicherheit darf nicht mit einer Wehrpflichtigenarmee verfolgt werden.
Die Anzeichen verdichten sich, daß die Weiterführung der Wehrpflicht nicht mehr dem hinter ihr bislang stehenden Friedensauftrag gerecht wird, noch weiterhin den tiefgreifenden Eingriff in die Berufsfreiheit der Betroffenen rechtfertigt. Die Veränderung der geostrategischen Situation Deutschlands nach 1989 sowie die entscheidende Reduktion der Truppenkonzentration in unserem Raum begründen Zweifel im Sinne der verfassungsrechtlichen Evidenzlehre daran, daß die Wehrpflichtigenarmee als Grundlage eines Massenaufgebots für Verteidigungszwecke noch zu rechtfertigen ist. Seitdem in einer verkleinerten Bundeswehr nur weniger als die Hälfte eines Jahrgangs zur Wehrpflicht herangezogen werden kann, verdichten sich schließlich auch die Anzeichen, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz in naher Zukunft materiell evident durch das eingetretene Ausmaß an Wehrungerechtigkeit verletzt sein wird.
Anmerkungen
1) Am deutlichsten war dies in der ersten § 218 Entscheidung, BVerfGE 39,1, wie dies die abweichenden Voten der RichterInnen Rupp v. Brünneck und Simon eindrucksvoll belegen.
2) Sh. hierzu Götz Frank, Der verfassungsrechtliche Rahmen zum sozialökologischen Jahr als Pflichtjahr, in: Kritische Justiz,1996, S. 238 ff., S. 240 f.
3) BVerfGE 74, 102, 116, anknüpfend an BVerfGE 22, 380, 383.
4) So Dieter S. Lutz, Ist die Wehrpflicht überhaupt noch verfassungsgemäß?, in: Jürgen Groß/Dieter Lutz, Wehrpflicht ausgedient? Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 103, Hamburg 1996,S. 5 ff., S. 9.
5) Sh. hierzu ausführlich Ekkehart Stein, Staatsrecht, 15. Aufl., Tübingen 1995, S.232 ff.
6) Vgl. etwa von der Heydte, Wehrpflicht, in: Staatslexikon der Görres Gesellschaft, Band 8, 1963, S. 494 sowie Stern, Staatsrecht II, 1. Aufl., S. 880 und Hans Seider/Helmut Reindel, Die Wehrpflicht, Wien1971, S. 36.
7) Sh. Christian Grimm, Allgemeine Wehrpflicht und Menschenwürde, Berlin 1982, S.19 f.
8) Sh. so zu Recht Manfred Messerschmidt, Allgemeine Wehrpflicht Legitimes Kind der Demokratie?, in: Sicherheit und Frieden2/95, S. 91 ff., S. 91.
9) Carl von Decker, Über die Persönlichkeit des preußischen Soldaten, festgestellt durch die Militärverfassung seines Vaterlandes, 1842, S. 26, zitiert nach Manfred Messerschmidt, a.a.O. S. 94.
10) Sh. Messerschmidt, a.a.O., S. 92.
11) Frank, AKGG, 2. Aufl., hinter Artikel87, RZ 77.
12) So zu Recht Stefan Brunner, Deutsche Soldaten im Ausland, München 1993, S. 185.
13) Hinweise hierzu sh. Frank, AKGG, a.a.O., RZ 79.
14) Zu Recht Lutz, a.a.O., S. 7.
15) Vgl. zu diesem Streit im einzelnen AKGG Frank, 2. Aufl., hinter Art. 87, RZ 79sowie Markus Winkler, Die Reichweite der allgemeinen Wehrpflicht, in: NVWZ 1993, S.1151 ff.
16) BVerfGE 48, 127 auch die Einrichtung des Militärs als solches ist keine verfassungsrechtliche Pflicht, wie das Bundesverfassungsgericht dies in dieser Entscheidung konkretisiert; vielmehr "geht das Grundgesetz davon aus", daß eine funktionsfähige militärische Landesverteidigung aufgebaut wird BVerfGE a.a.O., S. 159. Dies ist keine dahingehende Verpflichtung, sondern eine Grundannahme, die darauf basiert, daß Landesverteidigung, in welchem Umfang auch immer, auf unabsehbare Zeit erforderlich sein wird so schon AKGG Frank, 2. Aufl., hinter Art. 87, RZ 15.
17) Einen Überblick über den Streitstand bietet Dieter Walz, Der "neue Auftrag" der deutschen Streitkräfte und das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 1993, Heft 3, S. 89ff., insbesondere S. 89 f.
18) Vgl. so schon meinen Beitrag "Der Aufgabenwandel der Bundeswehr und die Wehrpflicht", in: 4/achzeitschrift für Kriegsdienstverweigerer, Wehrdienst und Zivildienst, 1995, S. 140 ff., FN 11.
19) In diese Richtung vgl. auch Michael Köhler, Internationaler Streitkräfteeinsatz und Wehrverfassung, in: Sicherheit und Frieden 2/95, S. 85 ff., S. 87.
20) So etwa Klaus Peller Schötensack, Ausbildungserfordernisse für Wehrpflichtige angesichts neuer Aufgabenstellungen der Bundeswehr, in: Günter Gorschenek/Hans Gerhard Justenhoven (Hrsg.), Keine Zukunft für die allgemeine Wehrpflicht?, Publikationen der katholischen Akademie Hamburg, Band 131994, S. 127 ff., S. 128.
21) BVerfGE 90, 286, 355 f.
22) a.a.O., S. 351.
23) So ausdrücklich Sebastian Knoche," Zwangsweise" Diensterfüllung bei Auslandseinsätzen?, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 1996, S. 21 ff., S. 25.
24) Roman Herzog, 40 Jahre Bundeswehr Bilanz und Perspektiven, Rede des Bundespräsidenten anläßlich der 35. Kommandeurtagung der Bundeswehr in München am 15. November 1995, in: Presse und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 97 vom21.11.1995, S. 42 f.
25) BVerfGE 48, 127, 160.
26) So der Hinweis von Manfred Baldus, Die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht unter veränderten militärpolitischen Bedingungen, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht, 1993, Heft 3, S. 92 ff., S. 96.
27) Ernst Czempiel, Die Politik vordem Frieden: ratlos, in: FAZ vom26.10.1996, Beilage Bilder und Zeiten, S.1.
28) Vgl. Hanno Beck, Adolf Prinz, Wehrpflicht ökonomisch betrachtet, in: Wirtschaftsdienst 1994/9, S. 449 ff., S. 450.
29) Sh. Michael Elicker, Schluß mit der Wehrpflicht. Zu den Ergebnissen der US amerikanischen und deutschen Wehrstrukturkommission, in: 4/3achzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerer, Wehrdienst und Zivildienst 1994, S. 104 ff., S. 105.
30) Vgl. im einzelnen AKGG Frank, 2.Aufl., Art. 26, RZ 51.
31) Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 1994, Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Zukunft der Bundeswehr, Bonn ohne Jahrgang(1994), S. 24.
32) Vgl. den Hinweis bei Hans Adolf Jacobsen, Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß?, in: Das Parlament, 46/1992, S.11.
33) Sh. Jürgen Kuhlmann/Ekkehard Lippert, Das Ende der Wehrpflicht?, Gegenwartskunde2, 1993, S. 177 ff., S. 179.
34) Weißbuch, a.a.O., S. 25.
35) Sh. Hans Adolf Jacobsen/Hans Jürgen Rautenberg (Hrsg.), Bundeswehr und europäische Sicherheitsordnung, Abschlußbericht der unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr, Bonn 1991, S.43 f.
36) Der Spiegel 16/1996, S. 26 ff.
37) Bruno Schoch, Friedhelm Solms und Reinhard Mutz (Hrsg.), Friedensgutachten 1996 (Hessische Stiftung Friedens und Konfliktforschung; Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft; Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg), Münster 1996, S.117.
38) Der Bundesminister der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien, Bonn 26.11.1992, S. 10 f.
39) AKGG Frank, 2. Aufl., hinter Art. 87,RZ 83; Rüfner, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 3, RZ 497.
40) Vgl. Otto Hauser, Ende der Wehrpflicht, Beginn der Dienstpflicht?, in: Europäische Sicherheit 4/94, S. 179 f., S.180.
41) Sh. einerseits Jacobsen, Rautenberg, a.a.O., S. 40, anderseits den Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzig, Elisabeth Altmann und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Abschaffung der Wehrpflicht, Deutscher Bundestag 13. Wahlperiode, Drucksache 13/3552 vom 22.01.1996.
42) So die treffende Formulierung im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, S.3.
43) Florian Gerster, SPD Minister in Rheinland Pfalz, Focus Nr. 43/1993, S. 68.
44) Sh. Ekkehard Lippert, Allgemeine Dienstpflicht als Sicherheits und sozialpolitischer Ausweg?, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Heft B6, 1995, S. 37 ff., S. 40sowie meinen Aufsatz Der verfassungsrechtliche Rahmen zum sozialökologischen Jahr als Pflichtjahr, Kritische Justiz 1996, S. 238ff.
45) Unstreitig vgl. Jost Pietzcker, Gutachten zu Rechtsfragen der Einführung einer allgemeinen Dienstleistungspflicht, Gutachten erstellt für den Gesetzgebungs und Beratungsdienst des Deutschen Bundestages im Oktober 1991 (unveröffentlicht), S. 9.
46) AKGG Rittstieg, 2. Aufl., Art. 12,Randziffer 160.
47) Sh. Scholz in: Maunz, Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12 Randziffer 481.Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ebenfalls kein Verstoß gegen die Verbote des Arbeitszwangs und der Zwangsarbeit vor, wenn Sozialhilfeleistungen von Leistung zumutbarer sogenannter GZ Arbeit seitens des Hilfesuchenden abhängig gemacht werden. Vgl. etwa BVerwGE 11, 252; 12, 132; 29, 99. Auf die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegenüber dieser Praxis erhoben werden können, weist zu Recht Dieter Sterzel in seinem Beitrag Zwang zur Arbeit im Sozialstaat, in: Festschrift für Helmut Ridder zum 70. Geburtstag, Neuwied und Frankfurt 1989, S. 269 ff.hin.
48) So die Umschreibung von Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension VVDStRL 41, S. 66
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