Friedrich Siegmund-Schultze: Ein Pionier der Friedensbewegung
Hans Greßel
Albert Schweitzer, der mit Professor Siegmund-Schultze befreundet war, wählte für die Gewissensunruhe der Menschen, die von der Ehrfurcht vor dem Leben ergriffen sind, das Bild von der Schiffsschraube, die sie in nicht aufhörende Verantwortung vorantreibt. Friedrich Siegmund-Schultze ging neue ungebahnte Wege, um die soziale Botschaft des Christentums für unsere Zeit durchzusetzen, die Einigung der christlichen Kirchen zu fördern und den Frieden durch Überwindung des Hasses und durch Versöhnung zu entwickeln, anstatt ihn durch Abschreckung und Wettrüsten unsicherer zu machen.
Seine revolutionär klingenden Forderungen hat er mit Leben gefüllt und unbeirrbar mutig gegen Unverständnis, Gleichgültigkeit, Feindschaft und Barbarei vertreten. Er wollte arbeiten für die Veränderung der »fluchwürdigen Zustände« auf unserer Erde: »So lange wir uns dagegen sträuben, dass uns mit dem Christentum . . . eine revolutionäre Tendenz eingehaucht ist, so lange werden wir unseren Aufgaben nicht gerecht werden. « (1)
Wie Albert Schweitzer forderte er Nachfolge durch ein Christsein der Tat. Wohl wusste er, dass wir alle auf Teilgebieten hinter dem hohen Anspruch zurückbleiben. Dennoch bleibt gültig, was er 1918 in einer Vorlesung über »Die soziale Erneuerung des Christentums« sagte: »Das christliche Wort, dem nicht die christliche Tat entspricht, ist für Jesus nichts wert. Wie ein roter Faden zieht sich durch sein Leben der Kampf gegen die Heuchelei, gegen das Wortemachen und Reden ohne entsprechendes Tun. Er verlangt:
Seid Täter des Worts! «
Und schärfer noch formulierte er nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Vortrag über »Die Aufgaben des Christentums in der gegenwärtigen Kultur-Krisis«: »Als Jesus sein Feuer anzündete auf Erden, wusste er, dass es eine Gegenwirkung gebe, die es löschen will. Auch heute ist ein großer Teil der kirchlichen Kreise damit beschäftigt, das Feuer Christi zu löschen, weil es ihnen gefährlich erscheint . . . Die Christen müssen endlich den Mut und die Kraft finden, das zu sein, was Christus von den Seinen erwartete: Salz der Erde und Licht der Welt . . . Auf den Dienst an den Brüdern auf sozialem und internationalem Felde, auf persönlichem und auf wirtschaftlichem Gebiet kommt es an.«
Das ist in wenigen Sätzen das Programm eines Mannes, der am 14. Juni 1885 in Görlitz als Sohn eines Pfarrers geboren war und nach dem Besuch der Gymnasien in Breslau und Magdeburg auf fünf Universitäten Philosophie und Theologie studierte.
Als Sozialarbeiter in einer Wohngemeinschaft
Nach fast zweijähriger Tätigkeit an der Friedenskirche in Potsdam - Sanssouci entschloss er sich, nicht weiterhin der Hofgesellschaft des Kaisers als Pfarrer zu dienen, sondern einen ganz neuen Anfang in einem Arbeiterviertel Ostberlins zu machen. Er wollte Kirche unter Arbeitern lebendig werden lassen und kann damit als einer der Vorläufer der Arbeiterpriester angesehen werden. In England hatte er Toynbee Hall, einen Mittelpunkt sozialpolitischer Arbeit in Ost-London kennen gelernt. Nach diesem Modell gründete er 1911 die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« in der Friedensstraße. Mit seiner Frau Maria und einigen Mitarbeitern zog er in eine Mietskaserne, eröffnete eine »Kaffeehalle« für Arbeiter, in der Gebäck und alkoholfreie Getränke ganz billig verkauft wurden; außerdem gründete er Treffpunkte und Klubs für Jungen und Mädchen.
Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost war Siedlung und Wohngemeinschaft von Studenten und Arbeitern in mustergültiger Selbstverwaltung. 1913 richtete er zusätzlich eine »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße ein. Sein Werk verzweigte sich mit Unterstützung seiner Helfer durch die Gründungen einer Abendvolkshochschule und einer Heimvolkshochschule, des Ulmenhofes in Berlin - Wilhelmshagen; hinzu kam ein Ledigenheim in Berlin-Moabit. Durch »Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft« und den von Siegmund-Schultze 1912 gegründeten »Akademisch-Sozialen Verein« mit der »Akademisch-Sozialen Monatsschrift« kam der Anstoß für ein weitmaschiges Netz von Siedlungen, Ortsgruppen und etwa 50 Klubs in vielen Städten Deutschlands.
Im Jahre 1916 erläuterte er den Sinn der Sozialen Arbeitsgemeinschaft:
»All unser Gerede vom Deutschtum und Christentum muss in den Augen der Arbeiter Heuchelei sein, solange wir ihnen als die Bedrücker erscheinen. Erst wenn zwischen ihnen und uns wieder eine soziale Arbeitsgemeinschaft gegründet ist, wird ihnen ein Zugang zu dem inneren Leben des deutschen Volkes wieder geöffnet sein.« Zur Nachbarschaftsarbeit, die Friedrich Siegmund-Schultze mit seinen Studenten und anderen Freunden leistete, gehörte die Jugendgerichtshilfe, die Einrichtung von Ferienkolonien für junge Arbeiterinnen und Arbeiter, ein Heim für milieugeschädigte Kinder, außerdem eine Heilerziehungsstätte für psychopathische Kinder.
Den Arbeitern vermittelte er mit all diesen Aktivitäten ein anderes Bild von der Kirche jener Zeit. Seine Absicht war die Heimholung der Arbeiterschaft in die Kirche durch Bildung von Basisgemeinden. Über die Gleichgültigen und die Verständnislosen schrieb er im April 1914 in den »Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«: »Denen aber, die sonntäglich schön predigen und sich sonntäglich schön erbauen lassen, ohne ihrem Gewissen zu folgen und die krasse Wirklichkeit anzufassen und zu ändern, gilt wie einst der Zornesruf des Meisters: Ihr Heuchler!«
Aufgrund seiner sozialpolitischen Leistungen war er im Jahre 1917 zum ersten Direktor des damals gegründeten Berliner Jugendamtes berufen worden; 1925 übernahm er außerdem eine Professur für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt an der Universität Berlin, später auch für die Sozialpädagogik und Sozialethik. Mit welcher Entschlossenheit er seine Ansichten vertrat, lässt ein Vortrag aus dem Jahre 1926 erkennen: »Solange wir nicht für eine Änderung dieser Wirtschaft, dieses äußeren Lebens mit voller Macht eintreten, haben wir kein Recht, über Mängel der Moral zu sprechen. Ich bin in diesem Punkte Sozialist von reinstem Wasser: Kommt nicht mit der Bibel, wenn ihr den Menschen kein Brot gebt! Auch nicht mit moralischen Anschauungen! Kommt nicht mit ethischen Idealen, ehe ihr nicht Ernst gesetzt habt an eine Änderung der wirtschaftlichen Grundlagen! « (2)
Seine erfolgreiche Arbeit im Berliner Osten wurde 1933 brutal durch die Nationalsozialisten beendet. Sie verhafteten ihn und zwangen ihn im Juni 1933, Deutschland zu verlassen. Bis zum Jahre 1946 lebte er in der Schweiz, unter anderem als Studentenpfarrer und Studentenberater; häufig war er auch als Gastdozent in verschiedenen Ländern tätig. Nach Kriegsende übernahm er 1947 eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik in Münster. 1948 gründete er die Jugend-Wohlfahrtsschule Dortmund und blieb ihr Leiter bis zum Jahre 1954. Auch in Dortmund baute er ein Nachbarschaftsheim für arbeitslose Jugendliche auf und sorgte in Verbindung mit dem Arbeitsamt für ihre Berufsausbildung. Wegen der Vielfalt seiner Werke und Anregungen gilt er als einer der Wegbahner moderner Sozialarbeit und gehört mit seinen unverwechselbaren Leistungen in die Reihe der großen Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster, Herrmann Lietz, Paul Natorp und Georg Kerschensteiner.
Im Dienst für Menschen in Not
Ebenso wie er für Arbeiter eintrat in der Bedrängnis überfüllter Wohnungen, der Arbeitslosigkeit und dem Elend ihrer in Lumpen aufwachsenden Kinder, die häufig an Tuberkulose oder Rachitis erkrankt waren, unterstützte er im Laufe seines reichen Lebens immer wieder Menschen in Not. Sein Maßstab für Aufgabe und Dienst war es, »den Willen Christi für unsere Zeit zu deuten.« Im ersten Weltkrieg half er englischen Kriegsgefangenen, die in unzulänglich eingerichteten Lagern litten. Diese »Caritas inter Arma«, den Liebesdienst während des Krieges, charakterisierte er knapp und treffend: »Jeder 'feindliche' Ausländer war in Deutschland unser Nächster, ebenso wie jeder Deutsche in England für unsere englischen Freunde der Nächste war. « Weil Friedrich Siegmund-Schultze für diese Gefangenenhilfe in Deutschland die Hauptverantwortung übernommen hatte, wurde er in den ersten Monaten des Krieges von verständnislosen Offizieren vor ein Kriegsgericht gestellt und ohne ausreichende Verteidigungsmöglichkeit zum Tode verurteilt. Erst als er, für das Gericht unerwartet, einen Brief des Kaisers vorlegte, der seine Arbeit respektiert hatte, wurde das Urteil sofort aufgehoben. (3) Er organisierte dann auch die Gefangenenseelsorge für Engländer und gründete die Deutsche Kriegsgefangenenhilfe, außerdem eine »Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland«.
Nach dem ersten Weltkrieg baute er durch seine Beziehungen zu den Quäkern und Versöhnungsbund-Mitgliedern, zusammen mit Elisabeth Rotten, die Quäkerspeisung für unterernährte Schulkinder in Berlin auf. Schon im Frühjahr 1933, noch in Deutschland, bemühte er sich um die Gründung eines internationalen Hilfskomitees für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Aber erst in der Schweiz konnte er dann mit anderen in einem internationalen kirchlichen Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge arbeiten und einmal sogar die Verschleppung einer jüdischen Familie verhindern. Prälat Hermann Maas, einer seiner Freunde, schilderte die Arbeit des Komitees für jüdische Flüchtlinge: »Es mussten Zufluchtsstätten geschaffen werden für Zehntausende von Menschen, vor allem auch für die jüdische Jugend und Kinder, die ein Leben ohne Hoffnung und Heimat vor sich sahen. Sie mussten Visa bekommen, untergebracht werden in anderen nichtdeutschen, später nichtöstlichen Ländern. Sie mussten umgeschult und beruflich umgeschichtet werden, in Familien oder Erziehungsheimen untergebracht werden. « (4)
Ein Bahnbrecher der Ökumene
Der Katholik Albert Brandenburg, Professor für ökumenische Theologie in Paderborn, nennt Friedrich Siegmund-Schultze den ersten deutschen Evangelischen Ökumeniker dieses Jahrhunderts. Vom Jahre 1908 an wirkte er zunächst als Sekretär des Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland, etwas später als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission. Auf der Weltkirchenkonferenz in Konstanz vom l. bis 3. August 1914 gehörte er als Schriftführer zu den Gründern des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen. In einer am 2. August beschlossenen Erklärung des Weltbundes heißt es: »Zur Versöhnung der Völker soll die Freundschaft zwischen den Kirchen ein Mittel sein, um auf die Völker, Parlamente und Regierungen einen Einfluss im Sinne der Verständigung und des guten Willens auszuüben. «
Mit Erzbischof Nathan Söderblom, dem berühmten Mitbegründer der Ökumene, war Friedrich Siegmund-Schultze befreundet. Dieser lud ihn im Oktober 1918 zu einer Gastvorlesung über »Die soziale Erneuerung des Christentums und die Einheit der Kirche« in die Universität Uppsala ein und schrieb dazu:»Wollen Sie die soziale, wirtschaftliche und demokratische Frage behandeln? Hier steht die Kirche vor einer Revolution. Das Evangelium muss sich aus den Fesseln der »guten Gesellschaft« losmachen, um Salz und Feuer und Licht zu sein. Ich schlage Ihnen vor, dieses Problem mit aller radikalen Offenheit hier bei uns zu behandeln. « (5)
Die Entwicklung der Ökumene in den Jahren 1913 bis 1933 wurde begleitet von Siegmund-Schultzes Zeitschrift »Die Eiche«. Durch zahlreiche Berichte und Aufrufe unterstützte er die Ökumenische Bewegung; besonders die Förderung der Stockholmer Konferenz für Praktisches Christentum im Jahre 1925 wird allgemein gerühmt. Zu seinen großen Leistungen für die Ökumene gehört auch die Herausgabe einer Kirchenkunde der Gegenwart mit dem Titel »Ekklesia«. Jeden der dreizehn Bände dieser Sammlung von Selbstdarstellungen der christlichen Kirchen hat er sachkundig und verständnisvoll eingeleitet. Eine Darstellung der Russisch-Orthodoxen Kirche zu erhalten, gelang unter den damaligen Zeitumständen leider nicht. Erst im Jahre 1958 erschien im Verlag des Moskauer Patriarchats ein Werk über die Russisch-Orthodoxe Kirche, das er einige Jahre zuvor dem russischen Theologieprofessor Parijskij gegenüber angeregt hatte.
Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen löste sich 1948 nach treuem Dienst für die wachsende Ökumenische Bewegung auf. Sein Anliegen wurde zum Teil von der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten aufgenommen. Friedrich Siegmund-Schultze war bis 1948 Sekretär des Weltbundes geblieben. Nicht alle seine Wünsche sind in Erfüllung gegangen. Es hatte ihm immer sehr daran gelegen, dass nicht allein die Kirchenführer die ökumenische Sache beherrschten, sondern dass ebenso das Kirchenvolk mitberaten und mitarbeiten konnte, denn der Weltbund hatte durch seine Landes- und Ortsverbände auch die Gemeinden erreicht. Erst in den letzten Jahren entwickelt sich nun wieder Ökumene von unten durch die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und durch »Ökumene am Ort«. Sinn und Ziel dieser Ökumenischen Bewegung sah Friedrich Siegmund-Schultze im Jahre 1962 vor allem auch darin, dass »heute die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit und internationalem Frieden unlöslich mit der ökumenischen Botschaft verbunden« ist.
Einen guten Dienst für die Ökumene leistete Friedrich Siegmund-Schultze schließlich noch im Jahre 1959 durch die Gründung des Ökumenischen Archivs in Soest, das später vom Zentralarchiv der EKD in Berlin übernommen wurde. Schwedische Freunde hatten 1933 seinen umfangreichen Briefwechsel, zahlreiche Dokumente und Bücher gerettet und 1939 nach Uppsala in Sicherheit gebracht. Weil unter der NS-Herrschaft in Deutschland viele Dokumente der Ökumenischen Bewegung verloren gingen, handelt es sich um einen einzigartigen Glücksfall für die Forschung. 1959 wurde die reiche Sammlung von Akten, Bildern und Büchern dem Ökumenischen Archiv zurückgegeben. Hinzu kamen Archivalien aus dem Schweizer Exil Siegmund-Schultzes und aus der Nachkriegszeit, darunter sind auch Akten aus der Arbeit des Versöhnungsbundes und aus den Anfangsjahren der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen.
Der Gründer des Internationalen Versöhnungsbundes
In enger Verbindung mit der Ökumenischen Bewegung (dem Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen) wurde Friedrich Siegmund-Schultze zusammen mit dem Quäker Henry Hodgkin Anfang August 1914 zum Begründer einer internationalen christlichen Friedensorganisation. Im Dezember 1914 wählten die englischen Freunde den Namen »Fellowship of Reconciliation« (Versöhnungsbund) und bekannten sich zu »Christi Revolutionsprinzip der Liebe«. Friedrich Siegmund-Schultze und die übrigen Mitglieder verstanden den Internationalen Versöhnungsbund als gewaltfreie Bewegung für eine revolutionäre »Christliche Internationale«. Die Zielvorstellungen waren und blieben bis zum heutigen Tage: Ökumene, soziale Gerechtigkeit und internationaler Friede. In der Satzung des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes heißt es: »Die Nachfolge Christi stellt uns in den Dienst der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens unter den Völkern und ruft uns zur Überwindung des Krieges.« Der Versöhnungsbund verwirft tötende und verletzende Gewalt als Mittel, Streitigkeiten zwischen Gruppen, Rassen und Völkern auszutragen. Deshalb tritt er für Schiedsgerichte, übernationale Rechtsinstanzen und entschlossene Abrüstung ein. Außerdem kämpft er dafür, »dass die gewissensmäßige Entscheidung jedes Staatsbürgers in allen Fragen des öffentlichen Lebens geschützt wird. «
Die Theologen des Internationalen Versöhnungsbundes, G.J. Heering, George Macgregor und Jean Lasserre, haben in entschiedenem Gegensatz zur damals herrschenden Anschauung vom gerechten Kriege die Grundlagen einer Theologie des Friedens erarbeitet. Ebenso entschlossen wurde als Konsequenz aus dem Geist des Neuen Testaments das Wirken für gewaltfreie Kampfmethoden in Theorie und Praxis durch die Mitglieder Richard Gregg, Martin Luther King, Gene Sharp, Hildegard Goss-Mayr und Theodor Ebert entwickelt. Der langjährige Ratspräsident des Internationalen Versöhnungsbundes Friedrich Siegmund-Schultze unterstützte auch einige Einrichtungen, die aus dem Versöhnungsbund hervorgegangen sind, zum Beispiel im Jahre 1920 den Internationalen Zivildienst, das Werk Pierre Ceresoles, und eine Ausbildungsstätte für Friedensarbeiter, das 1948 durch Wilhelm Mensching gegründete Freundschaftsheim Bückeburg.
Die Überwindung des Hasses
Aus der großen Anzahl der Aufsätze und Schriften Friedrich Siegmund-Schultzes ragt das 1946 erschienene Buch »Die Überwindung des Hasses« heraus. Es handelt sich um eine groß angelegte, sorgfältige Untersuchung, in der die Aussagen der Philosophen und der indischen, jüdischen und christlichen Religion nach Möglichkeiten der Überwindung des Hasses durchforscht werden. Hinzu kommen einige grundsätzliche Kapitel über das Wesen des Hasses und die Überwindung des Klassen-, Rassen- und Völkerhasses. Friedrich Siegmund-Schultze stellt fest: »Wie eine Epidemie fällt der Hass in Zeiten der Erregung über die Völker her und raubt selbst den Verständigen den Verstand. Indem er das ethische Urteilsvermögen lahm legt, vergiftet er das Zusammenleben der Menschen, die von der Krankheit befallen sind . . . Der Hass zerstört die Güter, die die Menschheit empfing und mehrte. Diese reiche Erde, den Menschen als Besitz anvertraut, droht die Stätte ihres Unterganges zu werden. Der Garten, der aus der Wildnis entstand, wird wieder zur Wüste . . . Alle diese Kräfte, die dem Aufbau dienen sollten, werden in den Dienst des Todes gespannt . . . Die Verantwortung derer, die die öffentliche Meinung leiten wollen, ist unendlich groß. Hass lässt sich den Massen leicht einblasen, aber nur schwer abblasen. Manche revolutionäre Bewegung, die mit hohen Idealen begonnen hat und im tiefen Sumpf geendigt hat, liefert den Beweis. «
Vor allem im neutestamentlichen Christentum erkennt er Wege der Hassüberwindung: »Indem Jesus seinen Jüngern zeigt, wie sie in ihren Feinden den Hass überwinden können, wird die Nächstenliebe in Tat und Wahrheit zum Grundprinzip der menschlichen Beziehungen erhoben, auch in Bezug auf das Hassproblem. Nicht nur meine Hassleidenschaft wird überwunden, sondern auch der Nächste wird durch mein Verhalten von seinem Hass befreit. « Im Kapitel, das der Überwindung des Völkerhasses gewidmet ist, stellt er die Diagnose für unsere Zukunft: »Die Selbstvernichtung der Menschheit auf Grund des Hasses, der die ihm gemäßen Vernichtungsmittel gefunden hat, steht vor der Tür . . . Auf Grund des Zusammenhanges von Völkerhass und Menschheitsvernichtung ist die Überwindung des Hasses eine Lebensfrage der ganzen Menschheit.«
Jedem von uns stellt er Fragen, die wir positiv beantworten müssen, wenn wir als Gattung überleben wollen: »Wie kann man das Gewissen des Menschen, der das alles sogar erkennt und zugibt, so wach machen, dass er sich aufgerufen fühlt zu handeln? Siehst du denn nicht, dass dein tägliches Tun, aber auch dein tägliches Nichttun, dein tägliches Reden, aber auch dein Nichtreden oder Zuhören, dass dein Mut zum Guten, aber auch deine Feigheit entweder den Hass abbauen hilft oder zur Verschärfung des Hasses beiträgt? . . . Du nimmst und nimmst und nimmst und gibst nicht. Auf diese Weise muss die Menschheit zugrunde gehen. « Am Schluss des Buches nennt er Beispiele aus der Arbeit des Internationalen Versöhnungsbundes zur Überwindung des Hasses und endet ganz im Geiste des Versöhnungsbundes mit dem Aufruf: »Stellt nur mit der Tat und in der Wirklichkeit jenem Reich des Hasses, das noch immer herrscht, eine auf Liebe gegründete Gemeinschaft entgegen!«
Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und der Kampf gegen den Krieg
Friedrich Siegmund-Schultze führte den Kampf um den Frieden gegen den Krieg sein Leben lang energisch und eindrucksvoll in Wort und Tat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden seine Warnungen drängender. Er meinte: »Die gegenwärtige atomare Aufrüstung stellt nun zum letzten Male die Völker vor die Frage, ob sie sich für das Leben oder den Tod der Menschheit entscheiden wollen. « Er fürchtete die Gefahr, »dass diese Erde als ein Feuerball zugrunde geht. « (6) Deshalb brandmarkte er den Krieg im Zeitalter der Wasserstoffbombe und anderer Massenvernichtungsmittel als »Mord im größten Ausmaß. Wer angesichts dieser Größe des Verbrechens nicht sein Gewissen sprechen hört, stellt sich außerhalb jeder ethischreligiösen Gewissensgemeinschaft. Es handelt sich um die Todsünde der Menschheit, um Aufstand gegen Gott . . . Wenn die Kirchen das bisher nicht deutlich erklärt haben, so hängt das mit ihrer Abhängigkeit vom Staat und mit der Abhängigkeit der einzelnen Christen von den Urteilen und Tendenzen ihrer Umgebung zusammen. Das Gewissen der Menschheit hat durch seine Propheten längst deutlich gesprochen. « (7)
In anderem Zusammenhang beklagt er im Jahre 1951 die Behinderung wirksamer Friedensarbeit im Osten und im Westen. Freie Äußerungen seien im östlichen Bereich nicht möglich und würden im Westen erschwert oder als kommunistisch diffamiert. Die notwendige Beschäftigung mit Alternativen gegenüber dem Hineintreiben in den Dritten Weltkrieg werde weder von der Presse noch von der Öffentlichkeit gefördert. Für eine große Torheit hielt er es, dass die westliche Politik sich damals durch eine mächtige östliche Friedenspropaganda »das Wort Frieden aus dem Munde schlagen ließ ... ein Zeichen dafür, dass es ihr nicht sehr tief im Herzen saß. « (8)
Er bedauerte auch, dass »Deutschland, niedergeworfen, schuldbeladen und machtlos, « nicht nach dem Zweiten Weltkrieg den Anfang für eine allgemeine Abrüstung gemacht hat. (9) Besonders beunruhigte ihn die Gleichgültigkeit und mangelnde Aktivität der meisten: »Die Menschen unserer Tage können sich aus ihrer seelischen Trägheit nicht erheben. Sie nähern sich mit geschlossenen Augen dem Abgrund. Sie wehren sich nicht gegen ihre Regierungen, die sie an den Tod verkaufen. Sie warnen nicht die Völker, die die Waffen schmieden, durch die alle zu Grunde gehen müssen. « (10)
Er meinte demgegenüber ungewöhnlich hart formulierend: »Da sich die Teilnahme an der militärischen Vorbereitung des Krieges heute nicht nur als Totschlag, sondern als bewusster Mord charakterisiert, muss jeder ernste Mensch sich von vornherein überlegen, welche Stellung er zu den etwa bevorstehenden Mordmaßnahmen einzunehmen gedenkt. Ein Christ wachen Gewissens wird heute die Kriegsdienstverweigerung als die richtige persönliche Haltung vor Gott und den Menschen erkennen. Die Jugend empfindet das immer deutlicher und wagt es auch auszusprechen. « (11) In dem streitbaren offenen Briefwechsel mit dem scharf antwortenden Bundespräsidenten Theodor Heuss im Jahre 1959 milderte er die Entschiedenheit seiner Aussagen über den Krieg als Massenmord und Verbrechen nicht ab. Er machte aber zugleich deutlich, dass er die einzelnen Soldaten nicht für schlechtere Menschen hält als die Kriegsdienstverweigerer. Und warnend schrieb er weit vorausschauend: »Sollten je die Atomwaffen in größerem Maßstabe Anwendung finden, würde die Reaktion der etwa noch am Leben geblichenen Gruppen der Menschheit nicht so diszipliniert sein wie die der heutigen Kriegsdienstverweigerer. Die jungen Menschen, die zum Beruf des Atomkriegers ausgebildet sind, würden dann das Verbrechen, das an ihnen begangen worden ist, mit schärferen Worten kennzeichnen, als es heute diejenigen tun, die die volle Bedeutung der jetzigen Vorbereitungen zum Selbstmord der Menschheit erkennen. « (12)
Im Jahre 1948, anlässlich des dreihundertsten Jahrestages des Westfälischen Friedens, bereitete Friedrich Siegmund-Schultze den Zusammenschluss der deutschen Friedensorganisationen vor. Am 23. Oktober 1949 wurde dann die »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände« unter seiner Leitung in Münster gegründet. Dazu gehörten damals u.a. die Deutsche Friedensgesellschaft, der Friedensbund deutscher Katholiken, die Internationale der Kriegsdienstgegner, der Internationale Versöhnungsbund, die Liga für Menschenrechte und die Weltorganisation der Mütter aller Nationen (WOMAN). Der Oberbürgermeister von Münster begrüßte die Teilnehmer in dem berühmten Friedenssaal; Bundeskanzler Adenauer sandte ein Glückwunschtelegramm. Als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände nahm Professor Siegmund-Schultze in Verhandlungen mit Parlamentariern und Bundesbehörden Einfluss auf die Formulierung des Grundgesetzartikels zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.
Im Internationalen Freundschaftsheim Bückeburg wurde er im April 1953 auf einer Tagung von Friedensorganisationen und kirchlichen Gruppen gebeten, einen Ausschuss für Fragen der Wehrdienstverweigerung zu leiten und die Einrichtung einer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen vorzubereiten. Im September 1955 planten ebenfalls im Freundschaftsheim zwanzig Vertreter verschiedener Verbände unter Leitung von Professor Siegmund-Schultze, Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer einzurichten. Die Zentralstelle wurde dann im März 1957 in Dortmund offiziell gegründet.
In einem Aufsatz über »Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen« äußerte er sich im Jahr darauf kritisch dazu, dass die Regelung der Kriegsdienstverweigerung innerhalb des Wehrpflichtgesetzes erfolgte, was dem Wortlaut des Artikels 4,3 des Grundgesetzes widerspricht. Er bedauert die herabsetzende Formulierung »Ersatzdienst«, wendet sich gegen die Entwicklung eines Grundrechtes zum Ausnahmerecht und erinnert daran, dass »weder Generale noch Politiker in den Jahren 1945 bis 1949 das Wort 'allgemeine Wehrpflicht' über die Lippen« gebracht haben. »Durch Änderungen des Grundgesetzes sind Bestimmungen getroffen worden, die in schärfstem Widerspruch zu dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers stehen.« Er erwähnt die Einschränkung der Grundrechte und die Einrichtung von Wehrstrafgerichten im Artikel 96. Dass am 6. März 1956 der Bundestag »mit überwältigender Mehrheit« derartige Änderungen des Grundgesetzes vornahm, verurteilt er ganz entschieden: »So schmiedet sich das deutsche Volk seine Fesseln. « (13)
Bei aller Schärfe seiner Aussagen darf er jedoch gerade wegen seiner positiven Zielsetzung nicht missverstanden werden. Sein Wunsch war ein freiwilliger aktiver Friedensdienst etwa nach dem Modell des aus dem Versöhnungsbund entstandenen Internationalen Zivildienstes. Schon 1928 schrieb er in seiner Zeitschrift, der »Eiche«, dass der Internationale Zivildienst »in der Geschichte der Kultur mehr bedeuten (wird), als das erste stehende Heer aufgestellt zu haben. Vor allem wird es heute denen, die sich von der Vernichtungssucht der modernen Kriegführung hinsehnen zu einer inneren und äußeren Befreiung davon, zum aufbauenden Werk des Friedens, die Möglichkeit geben, sich da wirksam einzuordnen. Es handelt sich um die krasseste Umwandlung des Gegeneinander in ein Füreinander -- Grund genug, dass die, die Christen sein möchten, sich darum bemühen. «
Wegen seiner bahnbrechenden Leistungen international anerkannt, starb Friedrich Siegmund-Schultze am 11. Juli 1969 in Soest. Während seines langen mutigen Lebens blieben zwar auch ihm Anfeindung, Enttäuschungen und Niederlagen nicht erspart. Doch der dritte Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Gustav Heinemann, schrieb über ihn: »Friedrich Siegmund-Schultze gehörte zu den ungewöhnlichsten Menschen, denen ich begegnet bin. In seinem Denken und im Gespür für das, was die Stunde gebot, war er seiner Zeit und seiner Umwelt weit voraus . . . Für alle, die ihn gekannt, verehrt und geliebt haben, bleibt die Verpflichtung, sein Werk zu bewahren und weiterzuführen.« (14)
1.
1 F. Siegmund-Schultze, Neuer Anfang, Die Eiche 1921, S. 2
2. 2 F. Siegmund-Schultze, Um ein neues Sexualethos, zitiert nach: Heinz Renkewitz, Erinnerungen eines Herrnhuters . . ., in: Hermann Delfs (Hrsg.), Aktiver Friede, S. 148
3.
3 F. Siegmund-Schultze, Von den Anfängen des Internationalen Versöhnungsbundes in Deutschland. In: Hans Gressel (Hrsg.), Versöhnung und Friede. Fünfzig Jahre Internationaler Versöhnungsbund (3. August 1964), Minden 1964; vgl. auch die Einführung zu F. Siegmund-Schultze: Inventarverzeichnis des ökumenischen Archivs 1962, S. 14. F. Siegmund-Schultze gibt mit diesem Inventarverzeichnis einen guten Einblick in die Forschungsmöglichkeiten zur Nutzung des Ökumenischen Archivs; seine Einführung bietet stellenweise sogar eine knappe Skizze der Entwicklung der ökumenischen Bewegung
4.
4 Hermann Maas, Friedrich Siegmund-Schultze und der Weltbund. In: Ernst Bornemann (Hrsg.), Lebendige
Ökumene S. 43
5.
5 Bengt Sundkler, Nathan Söderblom und Friedrich Siegmund-Schultze. In: H. Delfs, Aktiver Friede S. 120
6.
6 F. Siegmund-Schultze, Ursprung, Problematik und Zielsetzung der christlichen Arbeit für den Frieden. In: H. Delfs, Aktiver Friede S. 22
7.
7F. Siegmund-Schultze, Unsere Stellung zu einer Remilitarisierung Deutschlands In »Die Versöhnung«, Juli 1950, S. 12
8.
8 F. Siegmund-Schultze, Ein Wort zur Lage, in: »Die Versöhnung«, April 1951, S. l
9.
9 F. Siegmund-Schultze, ». . . den Weg zu gehn«. In: »Die Versöhnung«, Dezember 1952, S. l
10.
10Mitgliederbrief des Versöhnungsbundes Nr. l, März 1957, Grußwort des Präsidenten
11.
11F. Siegmund-Schultze, Unsere Stellung zur Remilitarisierung Deutschlands. In: »Die Versöhnung«, Juli 1950, S. 12
12.
12Junge Kirche 4/1959, S. 176
13.
13 F. Siegmund-Schultze, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. In: Hans Gressel (Hrsg.), Unsere Aufgabe in friedloser Welt. Zehn Jahre Freundschaftsheim Bückeburg, Minden 1958
14.
14 Gustav W. Heinemann, Geleitwort, in: H. Delfs, Aktiver Friede, S. l
|